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Genossenschaften

Gemeinsam stärker

Die Uno hatte das Jahr 2012 zum „Internationalen Jahr der Genossenschaften“ ausgerufen. In Deutschland erlebt die traditionsreiche Rechtsform eine Renaissance.

Im bitterkalten Winter 1846 hungern die Bauern im Westerwald, denn nach einer Missernte sind die Vorratskammern leer. Der 28-jährige Bürgermeister von Weyersbusch, Friedrich-Wilhelm Raiffeisen, will diesem Elend nicht tatenlos zusehen und gründet den „Verein für Selbstbeschaffung von Brod und Früchten“. Unter dem Leitmotiv „Was der Einzelne nicht vermag, das vermögen viele“ initiiert der Sozialreformer weitere Selbsthilfeorganisationen; sie unterstützen Landwirte durch den gemeinsamen Einkauf von Saatgut, Geräten und Düngemitteln. Der „Heddesdorfer Darlehenskassen Verein“ (1864) gilt als die erste ländliche Genossenschaft.

Der Hungerwinter 1846 ist 350 Kilometer östlich vom Westerwald auch für Hermann Schulze-Delitzsch Auslöser zum Handeln. Der Richter ist überzeugt: Die industrielle Revolution können kleine Handwerker nur überleben, wenn sie sich zusammenschließen. 1847 gründete er die „Rohstoffassoziation“ für Tischler und Schuhmacher, 1850 den ersten „Vorschussverein“, den Prototyp der Volksbanken.

Raiffeisen und Schulze-Delitzsch haben damit das Fundament für eine Unternehmensform gelegt, die sich rund um den Globus verbreitet hat. 800 Mio. Menschen in über 100 Ländern sind heute Mitglieder einer Genossenschaft. Die Vereinten Nationen haben 2012 zum „Internationalen Jahr der Genossenschaften“ erklärt, um auf deren weltweite Bedeutung aufmerksam zu machen.

In Deutschland besitzen über 20 Mio. Menschen Anteilsscheine an einer der rund
7 600 Genossenschaften; zu ihnen gehören fast 2 500 ländliche und über 2 000 gewerbliche Genossenschaften. Zur Genossenschaftsfamilie zählen außerdem etwa 1 160 Genossenschaftsbanken und mehr als 1 900 Wohnungsgenossenschaften. Als Unternehmensform hat die Genossenschaft eine transparente Struktur: Natürliche oder juristische Personen können sich zu einer „eingetragenen Genossenschaft“ zusammenschließen; mit Vorstand, Aufsichtsrat und Generalversammlung ist der Aufbau einfach. Eine Besonderheit der Genossenschaft ist das Demokratieprinzip: Jedes Mitglied hat eine Stimme, unabhängig von der Höhe seiner Kapitalbeteiligung.

Derzeit erlebt die Genossenschaft in Deutschland eine Renaissance: Im Jahr 2000 wurden in Deutschland 44 neue Genossenschaften ins Registergericht eingetragen, 2010 waren es 289, Tendenz steigend. Seine Wiederentdeckung verdankt das Traditionsmodell Genossenschaft mehreren Faktoren, wie Dr. Richard Reichel, Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Genossenschaftswesen an der Universität Erlangen-Nürnberg, erklärt.

Ein Grund für die Renaissance der Genossenschaft sind gesellschaftliche Trends: Vor dem Hintergrund der Finanzkrise entdecken wieder mehr Menschen die Genossenschaft als Gegenentwurf zu spekulativen Anlagegeschäften und zum Prinzip der Gewinnmaximierung um jeden Preis. Außerdem bietet diese Rechtsform mit den Prinzipien Selbstverantwortung, Selbsthilfe und Selbstorganisation einen idealen Rahmen für bürgerschaftliches Engagement. „Mitglieder einer Genossenschaft sehen, dass sie vor Ort Veränderungen bewirken und regionale Wirtschaftskreisläufe stärken“, so Reichel.

Dies wird besonders deutlich an der rasanten Zunahme der Energiegenossenschaften: Zwischen 2008 und 2011 hat sich ihre Zahl in Deutschland vervierfacht. Zum Stichtag 31. Dezember 2011 waren bei den Registergerichten 586 Genossenschaften eingetragen, die ausschließlich energiewirtschaftlich tätig sind. 2012 wurden über 150 Genossenschaften gegründet, die Photovoltaik-, Windenergie-, Biogas- oder Anlagen zur Nahwärmeversorgung betreiben. Wer solchen Genossenschaften beitritt, ist nicht nur Mitglied, sondern auch Eigentümer und Nutzer dieser Anlagen. Energiegenossenschaften stellen einen Katalysator für die Dezentralisierung der Energieversorgung dar – und damit einen Eckpfeiler der Energiewende: „Die demokratische Grundstruktur der Genossenschaft ermöglicht die einvernehmliche Beteiligung von Bürgern, Unternehmen, Landwirten oder kommunalen Einrichtungen unter einem Dach. Trotz der unterschiedlichen Akteure ist hier eine konstruktive Zusammenarbeit für das gemeinsame Ziel möglich“, unterstreicht Dr. Eckhard Ott, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbands e.V.

Energiegenossenschaften machen deutlich, dass die Regionalität zur DNA dieser Rechtsform gehört: „Genossenschaften sichern und stabilisieren wie keine andere Unternehmensform regionale Wirtschaftskreise und fördern lokale Beschäftigung“, stellt Stephan Götzl, Präsident des Genossenschaftsverbandes Bayern, klar. Dies gilt auch für die Finanzierung, wie Dr. Richard Reichel betont: „Bei der Kreditversorgung regionaler mittelständischer Betriebe spielen die Genossenschaftsbanken eine Schlüsselrolle.“

In der öffentlichen Wahrnehmung waren Genossenschaften traditionell mit den Sektoren Landwirtschaft und Handwerk verknüpft. Inzwischen ist diese Rechtsform jedoch längst im tertiären Sektor angekommen. Genossenschaften sind auch als IT-Dienstleister erfolgreich, wie die Geschichte der Nürnberger Datev eG zeigt. 1966 haben in Nürnberg 65 Steuerbevollmächtigte eine genossenschaftlich organisierte Selbsthilfeorganisation gegründet, um ihre Buchführung mit EDV-Unterstützung zu erledigen. Daraus hat sich die Datev eG mit heute fast 40 000 Mitgliedern und über 6 000 Mitarbeitern entwickelt, die im Geschäftsjahr 2011 einen Umsatz von 731 Mio. Euro erzielte.

Auch die Kreativwirtschaft entdeckt den Charme der Genossenschaft: 2011 haben erfahrene Kommunikationsexperten in Nürnberg die Kosmopolis eG gegründet. Die 14 Mitglieder – Grafiker, Texter, Webdesigner, Programmierer, Marketing-Consultants und Fotografen – bündeln ihr Fachwissen, um das gesamte Leistungsspektrum des Agenturgeschäfts vom Konzept bis zur Umsetzung abzudecken. „Dabei haben wir uns bewusst für die Rechtsform der Genossenschaft entschieden, denn wir wollten eine größere Verbindlichkeit als in einem Netzwerk“, erläutert Bernhard Lugert, Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzender von Kosmopolis. Von diesem festen Rahmen profitieren alle Beteiligten: Der Kunde kann ein Team zusammenstellen, das exakt den Anforderungen seines Projekts entspricht. Dabei müsse er aber nur die tatsächlich benötigten Leistungen bezahlen, jedoch keine Overhead-Kosten, erklärt Bernhard Lugert. Den Freelancern nutzen der Erfahrungsaustausch innerhalb der Genossenschaft und die stärkere Durchschlagskraft bei der Akquisition, denn manche Unternehmen hätten eine Scheu, „Einzelkämpfer“ zu beauftragen, so Bernhard Lugert. Die Genossenschaft als Vertragspartner biete die Gewähr, dass Projekte selbst dann erfolgreich zu Ende geführt werden, wenn ein Akteur ausfällt.

Autor/in: 
aw.
 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 12|2012, Seite 40

 
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