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Normalität der Mediengewalt

Der Amoklauf von Erfurt hat eine Diskussion über Gewalt in den Medien ausgelöst, deren Verlauf absehbar ist: Erst haben Politiker eine härtere Linie gefordert, schärfere Vorschriften und die Indizierung brutaler Filme und Computerspiele angekündigt. Doch ernsthafte Konsequenzen werden auch diesmal ausbleiben, denn es zeigt sich: Eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse über den Einfluss von Medien auf jugendliche Gewalttäter liegen nicht vor. Vielmehr hat im Fall des Robert Steinhäuser wohl ein ganzes Ursachenbündel zu dem schrecklichen Gewaltexzess geführt. Alle potenziell Verantwortlichen – Fernsehanbieter, Hersteller von Computerspielen, Schützenvereine, Schule und Eltern – reden ihren Anteil klein und sehen anderswo die Hauptschuldigen. Der Mangel an stichhaltigen Beweisen lässt Verbote als ungerechtfertigt erscheinen – oder sie sind gar nicht durchsetzbar, weil das Internet genügend Schlupflöcher bietet, um Computerspiele und mittlerweile auch komplette Kinostreifen herunterzuladen. Überdies, so das dritte Argument, sei die Erfurter Bluttat ein nie ganz ausschließbarer Einzelfall, der aber nicht verallgemeinert werden dürfe.

Man könnte an diesem Punkt zur Tagesordnung übergehen. Das hieße aber, die Augen davor zu verschließen, dass sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren etwas Grundlegendes verändert hat: Die Medienkonsumenten werden immer stärker in Gewaltdarstellungen eingebunden. Sie haben sich von passiven Zuschauern, von „Couch potatoes“ zu aktiven Teilnehmern in Computerspielen gewandelt, die den Ablauf der Handlung steuern können. In so genannten „Ego-Shooter“-Spielen wie „Counter-Strike“ schlüpfen sie sogar in die Rolle eines schießenden Akteurs, der sich mit anderen Spielern blutige Gefechte liefert. Diese Simulationen werden immer realitätsnäher. Nicht umsonst setzt sie das Militär in der Ausbildung ein. Niemand unterstellt, dass Hobbyspieler automatisch zur Waffe greifen, Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden können. Dennoch trainieren sie hier Verhaltensweisen, die sie in die Wirklichkeit übertragen können und eben manchmal auch tun.

Doch nicht nur die Qualität der Mediengewalt hat sich verändert, sondern auch ihre Quantität: Die Einführung des privaten Fernsehens und der Boom der Computerspiele haben zu einer schleichenden Normalisierung von Gewaltdarstellungen geführt. Damit verdient heute ein wesentlicher Teil der Medienindustrie ihr Geld. Ihre Allgegenwart kann keinem entgangen sein, der zum Beispiel Zeichentrickserien für Kinder verfolgt oder einmal in einer Zeitschrift wie „Computerspiele-Bild“ geblättert hat. Dort wird mit folgender Zeile für das Kriegsspiel „Sudden Strike“ geworben: „‘Mit Dir hätten wir jeden Krieg gewonnen‘, sagt mein Opa!“ Wohl gemerkt: Es handelt sich hier nicht um ein Blatt für eine kleine Minderheit, sondern um den auflagenstärksten Titel unter den Computerspiele-Zeitschriften.

Was in den Medien als selbstverständlich gilt, steht in eklatantem Widerspruch zu den Werten, die Schule, Eltern und Kirchen vermitteln wollen – ein Widerspruch, der aber kaum zur Sprache gebracht wird. Wichtiger als Verbote ist deshalb die öffentliche Wahrnehmung und Ächtung. Außerdem sollten gewaltfreie Alternativen durch ein entsprechendes Kauf- und Nutzerverhalten honoriert werden.

Wo also sind die Bürgerinitiativen, die gegen Gewaltsendungen und -spiele protestieren? Welche TV-Programmzeitschrift macht Eltern darauf aufmerksam, was ihrem Nachwuchs vorgesetzt wird? Welcher Sender (sieht man einmal vom öffentlich-rechtlichen „Kinderkanal“ ab) oder Spielehersteller wirbt mit der Gewaltfreiheit seines Angebots? Nicht der Ruf nach strengeren Gesetzen, sondern bürgerschaftliches Engagement und Problembewusstsein sind gefragt. Und entscheidend ist auch nicht, ob eine direkte kausale Verbindung zu Gewalttaten nachweisbar ist, sondern vielmehr, ob wir Kindern und Jugendlichen keine sinnvolleren Freizeitalternativen bieten können.
Autor/in: Dr. habil. Christoph Neuberger,Dr. habil. Christoph Neuberger ist Vertreter einer Professur für Kommunikationswissenschaft (Schwerpunkt Journalistik) an der Universität Münster
 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 06|2002, Seite 14

 
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