Vor 500 Jahren malte Albrecht Dürer ein schlichtes Stück Wiese: „Das große Rasenstück“. Niemals
zuvor hat ein Künstler solch ein banales Motiv aufgegriffen und so radikal umgesetzt. Mit der Darstellung von
Gräsern, Wiesenblumen und Kräutern, einem Aquarell, gerade mal 41 cm x 31,5 cm im Format, hat Nürnbergs
weltberühmter Sohn neue Maßstäbe in der Kunstgeschichte geschaffen und einen richtungsweisenden Quantensprung in
die Neuzeit erreicht.
Das Bild zählt zu den zutiefst empfundenen, virtuosesten, hypermodernen und herausragenden Schlüsselwerken, ist
eine der berühmtesten Naturstudien überhaupt und wird auf Grund seiner grandiosen Qualität von Dürer-Spezialisten
wie Fritz Koreny als „ein Wunder botanischer Genauigkeit in Naturgröße“ gerühmt. Fachleute waren in
der Lage problemlos die Pflanzenarten des fränkischen Wiesenstücks zu bestimmen: darunter Rispen- und Knäuelgras,
Breitwegerich, Ehrenpreis, Schafgarbe, Gänseblümchen und Löwenzahn. Die natürliche, zufällig und lebendig
wirkende Anordnung der Halme ist in Wahrheit künstlerisch brillant komponiert und von höchst subtiler Ausführung.
Die großzügigere Behandlung des Vordergrundes ist dabei weniger Nachlässigkeit als bewusster Kontrast, der zum
stimmigen und lebendigen Gesamteindruck entscheidend beiträgt und für Dürers künstlerische Souveränität spricht.
„Das Leben in der Natur gibt zu erkennen die Wahrheit der Ding“ schreibt er in seiner
Proportionslehre.
Diese philosophische Grundhaltung ist besonders im Rasenstück spürbar und hebt es über viele Pflanzenstudien
heraus, auch in Dürers eigenem Werk. Außergewöhnlich wie er uns dieses Stück Natur aus einer anderen Perspektive
betrachten lässt, von einem ungewöhnlich niedrigen Standpunkt aus und uns somit eine bescheidene, respektvolle
Haltung vor der Schöpfung vermittelt. Auch dieser Aspekt scheint besonders im 21. Jahrhundert aktueller denn je.
Mit dem distanzierten Blick eines beobachtenden Wissenschaftlers präsentiert er dem Betrachter einen Mikrokosmos,
einen Ausschnitt, der für das Ganze, das Universum steht und gleichzeitig gelingt es ihm ein Stück
„Weltseele“ einzufangen und das Geheimnis des Lebens, des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen
auf geniale Weise zu verdichten.