Das hätte sich selbst Dürer vermutlich nicht träumen lassen. Unter allen Dürer-Motiven nehmen die
„Betenden Hände“ nach wie vor Platz 1 auf der Popularitäts-Skala ein. Die massenhafte Verbreitung in
Privathaushalten scheint sich kontinuierlich fortzusetzen. Ein Blick in die Suchmaschinen des WorldWideWeb
bestätigt dies. Bis heute hat Dürers religiöses Urbild nichts an Aktualität verloren. Adaptierte Motive gibt es
in allen nur erdenklichen, möglichen bis unmöglichen Variationen, Materialien und Formaten: vom Tattoo bis zur
Großskulptur an einer amerikanischen Universität, vom klassischen Relieftäfelchen bis zur originellen
Werbekampagne. Die weltweit umfangreichste Sammlung derartiger Objekte gehört übrigens der
Albrecht-Dürer-Haus-Stiftung in Nürnberg. Von brotloser Kunst kann in Verbindung mit dieser industriellen
Produktion von Dürer´ schen „Devotionalien“ keinesfalls die Rede sein. Wie viele Arbeitsplätze hat
Albrecht Dürer eigentlich durch diese eine künstlerische Idee schon geschaffen? Was dem breiten Publikum durchaus
beglückende Momente bereitet, scheint Kunsthistorikern und eingefleischten Dürerfans mitunter Bauchschmerzen zu
verursachen. Denn während Dürers Pinselzeichnung als einzigartige Ikone und Virtuosenstück gilt, steht die
Adaption häufig für das krasse Gegenteil, den Inbegriff des Kitsches.
Im Hinblick auf das Originalbild, datiert 1508, handelt es sich um eine der insgesamt achtzehn Studien, die
Nürnbergs berühmter Sohn in brillanter Präzision auf blau grundiertem Papier als Vorbereitung der Mitteltafel des
Heller-Altars anfertigte. Ursprünglich befand sich die Studie des Händepaars zusammen mit der eines Apostelkopfes
auf einem gemeinsamen Bogen Papier. Karin Wimmer fand in ihrer Doktorarbeit heraus, dass Dürer unter Einsatz
eines Spiegels seine eigene linke Hand quasi optisch verdoppelte und so als Modellvorlage für die Darstellung
verwenden konnte. Das Ergebnis ein Meisterwerk: Eine Pinselzeichnung von höchst verblüffender, plastischer
Wirkung, mit einer durchdachten wie einzigartigen Komposition und von außergewöhnlich beseelter und suggestiver
Ausdruckskraft. In der gesamten Kunstgeschichte unübertroffen. Mit dieser vom Kontext des Altarbildes isolierten
Darstellung wurden Dürers „Betende Hände“ zum zeitlosen, allgemein gültigen Archetypus, der laut
Wimmer selbst in der extremsten Trivialisierung immer noch wiedererkennbar blieb.