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Das Spiel mit der Angst

von Tim Jürgens, Redakteur bei „11 Freunde – Magazin für Fußballkultur“

Mann, Mann, Mann. Die deutsche Angst sorgt bei uns wieder für mächtig Stirnschweiß. Denn am 9. Juni beginnt die Fußball-WM, von der nicht nur Politiker glauben, dass sie das Bruttosozialprodukt vehement steigern und die Stimmung im Land erhellen könne. Nun aber fürchten Leitmedien – und mit ihnen die meisten der Millionen Nationaltrainer draußen im Land – dass daraus nichts wird.

Der feine Herr Klinsmann, 2004 nach dem Abgang von Rudi Völler hektisch als Nationalcoach verpflichtet, bekommt das Team nicht mehr rechtzeitig in die Erfolgsspur, so der allgemeine Tenor. Die Abwehr durchlässig wie der Türsteher einer aus der Mode gekommenen Nobeldisco. Das Spielermaterial verglichen mit der Geschmeidigkeit internationaler Fußballer hölzern wie die Stars der Augsburger Puppenkiste. Dabei hatte der schwäbische Bäckergeselle doch bei seiner Inthronisierung versprochen: „Wir wollen 2006 Weltmeister werden!“ Klinsmann machte klar Schiff an Bord des morschen DFB-Kahns. Als radikaler Reformer entzog er sich im Affenzahn der Überwachung des antiquierten Verbands. Schaffte verstaubte Riten ab wie das traditionelle Essen von DFB-Funktionären und Team nach Länderpartien, schasste den granteligen Sepp Maier als Torwarttrainer und entsorgte „Altlasten“ wie Didi Hamann und Christian Wörns. Hingegen bekamen Nachwuchsspieler, etwa Robert Huth, auch bei zweifelhaften Leistungen vom Ex-Stürmer erneutes Vertrauen. Klinsmann und seine Gefolgsleute (Torwart-Trainer Andreas Köpke, Co-Trainer Jogi Löw, Team-Manager Oliver Bierhoff u.v.a.) schürten die Hoffnung auf bessere Zeiten – und der mächtige DFB hielt still. Auch die Medien ließen ihn machen. Der frische Wind – eine sanfte Brise Kaliforniens – galt als Zeichen, dass es mit dem deutschen Fußball nach Horror-Szenarien wie bei der EM 2000 und der EM 2004 endlich aufwärts gehe. Die Spielfreude der Mannschaft beim Confederations Cup wurde als Signal gedeutet, dass Klinsmanns Reformen greifen.

Doch am 1. März 2006 drehte sich der Wind. Im ersten Länderspiel des neuen Jahres setzte Klinsmann in Florenz auf schnelle Offensive – und wurde von konterstarken Italienern mit 1:4 nach Hause geschickt. Der Sonnyboy wurde über Nacht der „verfluchte Reformer“ (Spiegel). Die „Bild“ schmiedete schon den internen Plan, bei einer vorzeitigen Klinsmann-Demission den entrückten Rekordinternationalen Lothar Matthäus vor der WM als Trainer-Sofortlösung zu präsentieren. Die Medien degradierten den Retter zum Blender. Sogar sein Lufthansa-Meilenkonto geriet zum Politikum. Franz Beckenbauer und die Boulevardpresse warfen Klinsmann mangelndes Verantwortungsbewusstsein vor, weil es den Trainer nach Länderspielen regelmäßig gen kalifornische Heimat zog.

Und was macht Klinsmann? Er behält die Nerven, lächelt und tut, was ihn schon als Spieler auszeichnete: Er schottet sich ab, taktiert klug, arbeitet und setzt auf seine Unberechenbarkeit. Er sagt: „Alle Nationen fürchten sich davor, dass die Deutschen im Turnier den Schalter umlegen.“ Viele Deutsche fürchten sich zwar momentan mehr davor, das Team könne es nicht tun. Doch Klinsmann ist ein Zocker. Er beherrscht das Spiel mit der Furcht der Leute und orakelt schlau: „Wenn an einem bestimmten Tag, zu einem bestimmten Moment alle Pläne aufgehen, die wir mit dem Team verfolgen, können wir auch Brasilien schlagen.“ Warum auch nicht? In seiner Vita hat er mehr als einen Titan gefällt: Als Auswechselspieler zur WM gefahren, überrannte er 1990 im Achtelfinale die übermächtigen Holländer fast im Alleingang. Als Weichling verschrien, gab er mit einer Tätlichkeit gegen brutal zu Werke gehende Kroaten im Viertelfinale der EM 1996 das Zeichen zum Widerstand. Selbst Franz Beckenbauer, den launischen Regenten des deutschen Fußballs, setzt der eloquente Jung-Trainer charmant auf den Pott: „Ich habe ihm gezeigt, dass ich sehr wohl selbst in der Lage bin, die Situation richtig einzuschätzen.“ Wer darf das schon, wenn nicht der schmale Blonde mit dem breiten Kreuz? Für jemanden, dessen öffentliche Wahrnehmung der eines Staatsmanns gleicht, legt er ein sehr hohes Maß an Mut, Entschlossenheit und Willen an den Tag. Seine Vision von einer jungen Mannschaft und modernem Fußball setzt er um. Wann genau? Wir werden sehen. Aber unser Angstschweiß verdient ein Erfrischungstuch und ein Lächeln der Entspannung. Warum sollte Klinsmann nicht auch eine vermeintliche Nachwuchstruppe dazu bewegen, ab 9. Juni den Schalter umzulegen?

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 05|2006, Seite 48

 
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