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Wirtschaftspolitik

Frischer Wind für Europa

Mit der Strategie „Europa 2020“ zielt die Europäische Union auf eine tief greifende Modernisierung der EU-Staaten sowie auf intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum ab. Von José Manuel Barroso

Diese wirtschaftspolitische Strategie wurde während einer Wirtschaftkrise entworfen, die in unserer Generation bisher einmalig ist. Das stetige Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum des vergangenen Jahrzehnts wurde durch diese Krise zunichte gemacht: Unser Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank 2009 um vier Prozent, unsere Industrieproduktion fiel auf den Stand der 1990er Jahre zurück und 23 Mio. Menschen – zehn Prozent unserer Bevölkerung – sind inzwischen ohne Arbeit. Die Krise war ein gewaltiger Schock für Millionen von Bürgern und hat einige grundlegende Schwächen unserer Wirtschaft freigelegt.

Europa muss mehr tun, um im immer schärferen Wettbewerb bestehen zu können. Und während Europa sich seinen strukturellen Schwächen widmen muss, ist die Welt in einem raschen Wandel begriffen und wird am Ende des Jahrzehnts eine völlig andere sein. Angesichts unserer alternden Bevölkerung und sinkender Beschäftigungsquoten stellt die Erhaltung und Hebung des Lebensstandards ebenfalls eine große Herausforderung dar. Außerdem sind wir mit der Begrenztheit der Energiequellen und dem Klimawandel konfrontiert. Europa steht vor klaren und schwerwiegenden Entscheidungen. Entweder stellen wir uns gemeinsam der unmittelbaren Herausforderung des wirtschaftlichen Aufschwungs und auch den längerfristigen Problemen, damit wir die jüngsten Verluste ausgleichen, unsere Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen, unsere Produktivität steigern und längerfristig dem Wohlstand in der Union den Weg bereiten. Oder wir machen mit langsamen und weitgehend unkoordinierten Reformen weiter und riskieren dauerhafte Wohlstandseinbußen sowie ein schleppendes Wirtschaftswachstum.

Die in der Initiative Europa 2020 verankerten sozialen und politischen Ziele der Europäischen Union sind auf einen Umbau der europäischen Wirtschaft ausgerichtet. Unmittelbar steht die Überwindung der Krise an erster Stelle, aber die größte Herausforderung besteht darin, die EU auf einen nachhaltigen langfristigen Wachstumspfad zu bringen. Das bedeutet aber, dass wir dem Reflex widerstehen müssen, die vor der Krise bestehenden Verhältnisse wiederherstellen zu wollen. Vor der Krise kam Europa in vielen Bereichen gegenüber dem Rest der Welt nicht schnell genug voran, u.a. was die Reaktion auf die Alterung der Gesellschaft, das strukturelle Wachstum und die im Vergleich zu unseren wichtigsten Wettbewerbern vorhandene Beschäftigungslücke anbelangt. Diese Herausforderungen bestehen nach wie vor und sie werden sogar noch größer.

Drei Aspekte des Wachstums

Zur Vorbereitung auf die Zukunft, und um die Unternehmen gleichzeitig bei der Überwindung der derzeitigen Krise zu unterstützen, haben die Staats- und Regierungschefs auf Vorschlag der Kommission die Strategie Europa 2020 auf den folgenden drei Kernprioritäten aufgebaut:

  • Intelligentes Wachstum – Entwicklung einer auf Wissen und Innovation gestützten Wirtschaft.
  • Nachhaltiges Wachstum – Förderung einer ressourcenschonenden, umweltfreundlicheren und wettbewerbsfähigeren Wirtschaft.
  • Integratives Wachstum – Förderung einer Wirtschaft mit hoher Beschäftigung und wirtschaftlichem, sozialem und territorialem Zusammenhalt.

Intelligentes Wachstum bedeutet, Wissen und Innovation als Triebfedern unseres künftigen Wachstums zu stärken. Bedingungen hierfür sind ein leistungsfähigeres Bildungssystem, mehr Forschung, Förderung von Innovation und Wissenstransfer innerhalb der Union sowie Ausschöpfung des Potenzials der Informations- und Kommunikationstechnologien. Dies alles bietet die Gewähr dafür, dass innovative Ideen in neue Produkte und Dienste umgesetzt werden können, durch die Wachstum und hochwertige Arbeitsplätze entstehen. Diese wiederum tragen dazu bei, die europäischen und weltweiten gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Mitentscheidend für den Erfolg sind hierbei Unternehmergeist, Verfügbarkeit finanzieller Mittel und Konzentration auf unsere Bedürfnisse und Marktchancen.

Das Konzept des nachhaltigen Wachstums bedeutet im Wesentlichen, eine ressourceneffiziente, nachhaltige und wettbewerbsfähige Wirtschaft aufzubauen und zugleich die Führungsrolle Europas im Wettbewerb um die Entwicklung neuer Verfahren und Technologien, ganz besonders umweltfreundlicher Technologien, zu nutzen.

Das Wirtschaftswachstum muss gerecht erfolgen und darf niemanden ausschließen. Dies kann nur erreicht werden durch ein hohes Beschäftigungsniveau, Investitionen in Kompetenzen, Bekämpfung der Armut und Modernisierung der Arbeitsmärkte, der allgemeinen und beruflichen Bildung und der sozialen Schutzsysteme, damit die Menschen Veränderungen antizipieren und bewältigen können, sowie durch die Schaffung eines gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Vorteile des Wirtschaftswachstums müssen allen Teilen der Union einschließlich ihrer entlegensten Gebiete zugute kommen und so den territorialen Zusammenhalt fördern.

Den Absichten müssen mutige Taten folgen

Die im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs haben auf den Gebieten Beschäftigung, Forschung und Entwicklung, Verringerung der Treibhausgasemissionen und Steigerung der Energieeffizienz, Bekämpfung der Armut und Hebung des Bildungsniveaus in der gesamten EU ehrgeizige Ziele formuliert. Die Kommission wird sieben sehr spezifische Leitinitiativen für ein klares Arbeitsprogramm ausarbeiten, das sowohl Maßnahmen auf EU-Ebene als auch Maßnahmen auf nationaler Ebene umfasst, um das angestrebte gerechte, intelligente und nachhaltige Wachstum zu realisieren. Derartige Leitinitiativen betreffen die Gebiete Innovation, digitale Agenda, erneuerte Industriepolitik, Kompetenzen, Ressourceneffizienz und soziale Integration. Sie werden natürlich für die Wirtschaft und die IHK-Mitglieder von großer Bedeutung sein.

Die Wirtschaft und ganz besonders die kleinen und mittleren Unternehmen wurden von der Wirtschaftskrise hart getroffen. Zugleich stehen alle Branchen vor den Herausforderungen der Globalisierung und der Anpassung ihrer Produktionsprozesse und Produkte an die Erfordernisse einer emissionsarmen Wirtschaft. Diese Herausforderungen werden sich unterschiedlich auswirken – manche Branchen werden sich gewissermaßen neu erfinden müssen, während sich für andere neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen.

Binnenmarkt besser nutzen

Es geht darum, für die Unternehmen bessere Bedingungen für Wachstum und Innovation nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch auf dem Weltmarkt zu schaffen. Dies erfordert bestmögliche Nutzung des Binnenmarkts, Reduzierung des Verwaltungsaufwands in allen Regelungsbereichen, Erleichterung des Schutzes von geistigem Eigentum und Fortführung der Bemühungen um ein einheitliches EU-Patent. Wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass diese Aspekte für die KMU, die besonders sensibel auf das Unternehmensumfeld reagieren, lebenswichtig sind.

Jegliche Wirtschaftspolitik wirkt sich nur dann positiv aus, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Eine Politik für die gesamte Europäische Union gelingt nur dann, wenn alle Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Verhältnisse dieselben Ziele verfolgen. Außerdem muss die Politik in enger Zusammenarbeit mit allen Betroffenen konzipiert werden – v.a. Unternehmen, aber auch Gewerkschaften, Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und Verbraucherverbände. Die Strategie Europa 2020 umfasst zwei Dimensionen – eine europäische und eine nationale –, um den verschiedenen Ebenen der politischen Willensbildung Rechnung zu tragen.

Europa 2020 ist eine ehrgeizige Strategie, die in hohem Maße auf die Fähigkeit Europas baut, eine Wirtschaft der Zukunft zu werden. Dazu bedarf es der Unterstützung und echten Eigenverantwortung aufseiten der Politik ebenso wie aufseiten der Wirtschaft. Ich bin mir sicher, dass wir die Krise schneller überwinden und sogar stärker werden, wenn wir zusammenarbeiten.

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 06|2010, Seite 18

 
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