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Psychische Gefährdungsbeurteilung

Was belastet Sie denn?

Depression Burnout Stress Druck © kieferpix - Thinkstockphotos.de

Das Arbeitsschutzgesetz schreibt den Arbeitgebern vor, dass sie auch psychische Gefährdungen ihrer Mitarbeiter minimieren müssen.

Regelmäßig untersuchen die Krankenkassen, weshalb und wie lange sich Beschäftigte in Deutschland krankschreiben lassen. Nach Erkrankungen des Muskel- und Skelettapparats und der Atemwege zählen psychische Störungen zu den Hauptursachen der Arbeitsunfähigkeit, so die Erkenntnis des BKK Gesundheitsreports 2016. Die drei wichtigsten Einzeldiagnosen, die Ärzte auf dem „gelben Schein“ vermerken, sind akute Infektionen der Atemwege, Rückenschmerzen und depressive Episoden. Alarmierend ist, dass sich die Fehltage aufgrund psychischer Störungen zwischen 2005 und 2015 verdoppelt haben.

Dieser Anstieg lässt sich nicht allein mit differenzierten Diagnosen erklären, sondern auch mit dem Wandel der Arbeitswelt. Kraft- und Muskeleinsatz sind heute weniger gefragt, Umgebungsbelastungen wie Hitze, Staub und Lärm am Arbeitsplatz werden geringer. Dagegen wachsen emotionale und mentale Herausforderungen: Beschleunigung und Effizienzsteigerung verdichten die Arbeitsintensität, die Komplexität am Arbeitsplatz nimmt zu. Über die Hälfte der abhängig Beschäftigten geben in einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) an, dass sie häufig unter „starkem Termin- und Leistungsdruck“ arbeiten.

Arbeitsschutzgesetz

Der Gesetzgeber hat auf die zunehmende Bedeutung psychischer Belastungen in der Arbeitswelt reagiert. Seit einer Novellierung des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) im Oktober 2013 heißt es dort in §4 Abs. 1: „Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird.“ „Psychische Belastungen bei der Arbeit“ sind nun explizit in der Liste der Gefährdungen aufgeführt (§5 Abs. 3), die der Arbeitgeber bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen hat.
Im Rahmen dieser Gefährdungsbeurteilung muss der Arbeitgeber arbeitsbedingte Risiken beurteilen und ermitteln, welche Arbeitsschutzmaßnahmen erforderlich sind. Diese Vorschrift gilt für jedes Unternehmen, vom Kleinbetrieb bis zum Konzern. Ihre Einhaltung wird von den Aufsichtsbehörden kontrolliert. Wer diese gesetzliche Vorgabe ignoriert, setzt auf Risiko: Es drohen Geldbußen, in besonders schweren Fällen sogar Freiheitsstrafen; hinzu kommen mögliche Regressforderungen der Sozialversicherungsträger für Schäden, die durch grob fahrlässiges Handeln verursacht worden sind.

Dennoch haben Experten den Eindruck, „dass die Änderung des ArbSchG zum 1. Januar 2014 in der mittelständischen Praxis erst in wenigen Unternehmen wirklich angekommen ist“, so die Einschätzung der Creditreform. Im Klartext: Kaum ein kleines oder mittleres Unternehmen hat bislang psychische Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung mit einbezogen.

Ein Grund für dieses Zögern liegt sicherlich in der Komplexität und Unbestimmbarkeit der Materie: Die Temperatur am Arbeitsplatz, der Schadstoffgehalt der Luft, die Höhe des Schreibtischs und der Neigungswinkel des Bildschirms lassen sich messen, die Wirkung psychischer Belastungen dagegen nicht. Was der eine Mitarbeiter als anregend oder abwechslungsreich empfindet, treibt bei einem anderen möglicherweise den Adrenalinspiegel in ungesunde Höhen.

Hinzu kommt eine diffuse Abwehrhaltung: „Bei uns gibt es keine psychische Belastung.“ Solche Reaktionen von Betriebsinhabern sind kein Einzelfall und werden auch durch den negativen Beigeschmack des Wortes „Belastung“ ausgelöst. Die Arbeitswissenschaft definiert „psychische Belastung“ aber neutral als „Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch (seelisch) auf ihn einwirken“. Psychische Belastungen wirken auf die Sinnesorgane, auf Denken, Lernen, Gedächtnis, Konzentration und Empfindungen – im Gegensatz zu physischen Belastungen, die auf Knochen, Muskeln und Gelenke gehen.

Wichtig ist die Differenzierung zwischen „objektiver Belastung“ und „subjektiver Beanspruchung“: Diese Unterscheidung ist keine akademische Fingerübung, sondern grundlegend im Zusammenhang mit dem Arbeitsschutz. Bei der Gefährdungsbeurteilung geht es für Unternehmen ausschließlich um die Erfassung und Bewertung der objektiven psychischen Belastung einer Tätigkeit. „Zunächst muss Unternehmen klar sein, worüber wir bei der Gefährdungsbeurteilung überhaupt reden. Es geht darum, eine Gefährdung der Tätigkeiten zu erfassen und nicht um die Lösung von eventuellen Problemen eines einzelnen Mitarbeiters“, unterstreicht Dr. Stephan Sandrock vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (IFAA).

Ein Klassiker psychischer Belastung im Büroalltag ist der Konflikt zwischen den betrieblichen Kommunikationsanforderungen und den nötigen Freiräumen für konzentriertes Arbeiten. Ein Beispiel: Ein großer Teil der Aufgaben von Heike R., einer jungen Ingenieurin bei einem technischen Dienstleister, besteht aus direktem Kundenkontakt per E-Mail und Telefon. In ihrer Verantwortung liegt jedoch auch die Erstellung von Angeboten und Gutachten, die meisten davon komplex und mit knappen Terminvorgaben. Diese Kombination führt nicht selten zu Belastungssituationen.

Führungsverhalten und Arbeitsklima

Die Analyse der psychischen Belastung im Unternehmen setzt Schwerpunkte in den Bereichen Arbeitsorganisation, Arbeitsinhalt, Arbeitsmittel, Arbeitsumgebung und soziale Beziehungen. Diese Faktoren können durchaus „ans Eingemachte“ der Unternehmenskultur gehen und das Führungsverhalten und das Arbeitsklima im Betrieb berühren. Allein deshalb sollten Firmen die Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung nicht nur als lästige Pflichtübung begreifen, sondern als Instrument zur Weiterentwicklung des Unternehmens nutzen, so Eva Didion, Projektleiterin Inklusionskompetenz bei der IHK Nürnberg für Mittelfranken. „Wer genau hinschaut, erhält ein Stimmungsbild der Belegschaft und sieht, wo Prozesse und Kommunikation noch nicht rundlaufen.“ Dieser Erkenntnisgewinn, wie Mitarbeiter Führung und Kommunikation wahrnehmen, kann Unternehmen weiterbringen – sowohl bei der Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit als auch bei der Schärfung ihres Profils als attraktiver Arbeitgeber.

Die Auseinandersetzung mit psychischer Belastung im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung verursacht zwar zunächst Aufwand, schafft jedoch eine Situation, die allen nützt: Die Beschäftigten profitieren, weil sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Dem Unternehmen kommen eine höhere Produktivität und ein niedrigerer Krankenstand zugute. Um diese positiven Effekte zu erzielen, sollten alle Mitarbeiter, nicht nur die Führungskräfte, an der Gefährdungsbeurteilung beteiligt werden.

Der Gesetzgeber schreibt dem Unternehmen nicht vor, wie die Gefährdungsbeurteilung zu erfolgen hat. Es gibt jedoch Vorgehensweisen und Methoden, die sich bewährt haben. Der Praxisleitfaden der BDA (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) empfiehlt diese fünf Schritte:

  • Festlegen von gleichrangigen Arbeitsplätzen und Tätigkeiten
  • Erfassung der psychischen Belastungsfaktoren
  • Bewertung der psychischen Belastungsfaktoren
  • Ableiten von Maßnahmen und deren Umsetzung
  • Wirksamkeitskontrolle

Als besonders geeignete Methoden haben sich moderierte Workshops, Beobachtungen bzw. Beobachtungsinterviews und schriftliche Befragungen erwiesen. Gerade die Antworten in standardisierten Fragebögen zeichnen ein ehrliches und umfassendes Bild der psychischen Belastung im Betrieb.

Das Arbeitsschutzgesetz schreibt in § 6 vor, dass die Gefährdungsbeurteilung dokumentiert wird. Die Form – elektronisch oder auf Papier – bleibt allerdings dem Unternehmen überlassen. Einzelheiten dazu enthält die „Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie“. Eine angemessene Dokumentation zählt zu den Punkten, die von den Aufsichtsbehörden geprüft werden. Maßgebliche Kriterien sind auch Vollständigkeit und Prozessqualität: Wurden alle wesentlichen Arbeitsplätze und Tätigkeiten erfasst? Wurde die Gefährdungsbeurteilung systematisch vorbereitet? Wurden alle betroffenen Führungskräfte und Mitarbeiter einbezogen?

Als Wegweiser durch das komplexe Thema Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung gibt es gerade für die Zielgruppen Kleinbetriebe und Mittelständler zahlreiche Informationsangebote. Dazu gehören Prüflisten von Berufsgenossenschaften, Checklisten, Fragebögen und Interview-Leitfäden, die unter den nachfolgenden Links zu finden sind. Beispielsweise hat das IFAA für die Beurteilung psychischer Belastung ein Handbuch und eine App für Tablet-PCs entwickelt, das KPB Kurzverfahren.

Autor/in: 

aw.

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 03|2017, Seite 14

 
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