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Restaurant Estragon

Gastronomie mit sozialem Charakter

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Liebe zum Detail: Helmut Ehrhardt, Prokurist des Nürnberger Restaurants, mit Praktikantin Larissa Stöhr.

Die Nürnberger Gaststätte beschäftigt Menschen, die sich auf dem Arbeitsmarkt schwer tun, und hilft beim Berufseinstieg.

Dem Küchenkraut Estragon wurde einst eine heilende Wirkung bei Schlangenbissen zugeschrieben, unter Hobbyköchen führt das Gewächs mit dem leichten Anisgeschmack aber eher ein Nischendasein. Anders verhält es sich mit dem Nürnberger Restaurant Estragon, das sich seit seiner Gründung im Jahr 2005 im Herzen der Altstadt einen festen Namen gemacht hat. Das Besondere an der mittlerweile als gemeinnützige GmbH firmierenden Gaststätte: Der von der Aids-Hilfe initiierte Betrieb soll einerseits für kulinarische Erlebnisse bei den Gästen sorgen. Andererseits sollen Menschen auch mit schwierigen Biografien oder persönlichen Einschränkungen eine Chance bekommen, sich beruflich im Estragon neu zu beweisen.

Doch die Belegschaft mit zunächst vielen HIV-positiven Menschen hat sich gewandelt. Heute sind von den 25 Mitarbeitern über die Hälfte schwerbehindert oder anderweitig eingeschränkt, einige haben eine Drogenkarriere hinter sich. Aids-Erkrankte gebe es ganz wenig, berichtet Estragon-Prokurist Helmut Ehrhardt. Aids-Erkrankungen stoßen allerdings immer wieder auf Vorurteile. Im letzten Jahr habe eine knappe Handvoll Gäste ihre Reservierungen storniert, als sie vom Konzept des Estragons erfahren haben. In einem Fall telefonierte Ehrhardt hinterher, um die Sorgen – letztlich erfolgreich – zu zerstreuen. „Das ist echte Präventions- und Aufklärungsarbeit“, erinnert er sich. In diesem Jahr ist ihm bislang kein solcher Fall bekannt.

Sozialpädagogen leiten die Mitarbeiter an

Weiterhin sind unter den Mitarbeitern auch Langzeitarbeitslose, die zuvor 20 Jahre ohne Job gelebt hatten. Allen ist gemein, dass sie teils nicht die berufliche Leistung erbringen können wie in einem normalen Unternehmen. „Der Leistungsdruck ist ganz anders“, erklärt Ehrhardt. Manche bräuchten zusätzliche Pausen, bei manchen betrage die tägliche Arbeitszeit drei Stunden. Im Estragon nehme man sich die Zeit, auch diesen Menschen eine berufliche Perspektive zu geben. Sozialpädagogen leiten Mitarbeiter an oder entschärfen auch mal Konflikte. Für den regulären Betrieb gibt es weder staatliche und städtische Zuschüsse, nur der Umbau wurde auch mit Geldern aus einem EU-Sozialfonds mitfinanziert. Deshalb ist es Ehrhardt und seinem Team wichtig, dass das Essen passt, die Gäste also zufrieden sind. Das scheint gut zu gelingen. Zum Mittagslunch im Estragon ist es oft voll, wenn etwa Vollkornspaghetti mit Kürbis, Lauch und Kresse oder Schnitzel Wiener Art mit Erbsengemüse und Kartoffelpüree serviert werden.

Man wolle keinen „Mitleids-Bonus“, sondern etwas produzieren, das tatsächlich seinen Markt und die Nachfrage generiert. In Mittelfranken kennt Ehrhardt keinen weiteren Anbieter ähnlichen Zuschnitts, der sich im À-la-carte-Bereich etabliert hat. Außerdem ist er durchaus darauf stolz, zahlreichen Azubis und Mitarbeitern den Weg in den ersten Arbeitsmarkt geebnet zu haben. Das Konzept wurde 2007 bei der Aktion „Deutschland – Land der Ideen“ unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten als „ausgezeichneter Ort“ gewürdigt.

Auf die Frage, ob es mehr solcher Inklusionsprojekte geben sollte, winkt der Prokurist ab. Eigentlich wäre es besser, wenn solche Initiativen gar nicht mehr benötigt würden. Es müsste nur einfacher sein, dass andere Firmen Menschen auch dann einstellen, wenn sie nur 60 Prozent der Leistung bringen. Dagegen steht aber das „komplizierte Beantragen von Fördergeldern“, der bürokratische Aufwand ist einfach zu hoch. Auch die Mehrarbeit ist im Tagesgeschäft nicht zu unterschätzen. Eine Küchenschicht, die normalerweise mit vier Mitarbeitern auskommt, ist im Estragon mit sieben besetzt.

Zusätzlicher Tagungsbereich

Das Estragon selbst bietet nicht nur den Wirtsbetrieb, sondern stellt im Haus auch einen kleinen Tagungsbereich mit Service und Präsentationstechnik zur Verfügung. Der kleinere Raum kann bis zu acht Personen für Kleingruppenarbeit aufnehmen, im größeren Raum gibt es Platz für bis zu 20 Teilnehmer. Außerdem gehört noch ein Außer-Haus-Catering zu den Dienstleistungsangeboten des Estragon. In diesem Bereich können 100 Personen bedient werden, in Einzelfällen kann diese Zahl bei Bedarf auch höher sein.

Unter Menschen, die sich zunächst nicht im ersten Arbeitsmarkt zurechtfinden, gibt es einen hohen Bedarf an Angeboten wie dem Restaurant Estragon. Deshalb würde Ehrhardt gerne weitere solcher Möglichkeiten schaffen. Denkbar wäre etwa eine Manufaktur, die niederschwellige Arbeitsaufgaben hat und etwas produziert, was verkauft und verbraucht wird. Aber auch er hat aktuell keine Kapazitäten, diese Idee voranzutreiben. Immerhin könne sich das Estragon bereits selbst refinanzieren, aber auch da sei der Druck enorm.

Im Restaurant werden aktuell vier Azubis ausgebildet, darunter ein junger Mann aus Nepal, dessen Lehrstelle gefördert ist. Darüber hinaus gibt es einen Azubi-Fonds, um etwa den Küchenleuten Berufskleidung oder ein Messerset zu finanzieren. Mit eigenen finanziellen Mitteln könnten sie es sich teils nicht leisten.

Seine Aufgabe sieht Ehrhardt vor allem darin, die Qualität zu halten. Die Lust am Essen müsse in Vordergrund stehen. Eine besondere Aktion ist nach wie vor das Dunkelessen, das in den Wintermonaten an vier bis fünf Tagen angeboten wird und bei dem die Gäste in absoluter Dunkelheit dinieren. Indem sie die Gerichte nicht sehen können, sollen die verbleibenden Wahrnehmungssinne verstärkt angeregt werden. Das Estragon kann man aber noch ganz anders kennenlernen: Der Nürnberger Sozialverein Straßenkreuzer, der regelmäßig besondere Stadtrundgänge anbietet, hat in diesem Jahr auch eine Tour unter der Überschrift „Angst nehmen – Hilfe geben” im Programm. Eine Station davon ist das Restaurant Estragon. Auf diese Weise will der Verein Straßenkreuzer den Blick auf benachteiligte soziale Schichten, auf Armut und Behinderung, Sucht und Ausgrenzung richten.

Autor/in: 

tt.

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 12|2018, Seite 60

 
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