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Tanzen für die Zukunft

Die Hauptschüler an der Thusneldaschule in Nürnberg-Mögeldorf proben mit Tanzlehrer Klaus-Peter Rilling den „aufrechten Gang“ ins Berufsleben.

Es war im Mai diesen Jahres, als sich die Welt von Ballettlehrer Klaus-Peter Rilling für einen kurzen Moment in eine andere Richtung drehte. In diesem Moment krachte die von grenzenloser Eleganz und Ehrgeiz geprägte Welt eines langjährigen Solotänzers auf die, in der Dreizehnjährige als Berufswunsch Profikiller oder Pornostar angeben.

An diesem Tag war eine Horde Hauptschüler der Thusneldaschule in Mögeldorf in seine Ballettschule eingefallen, man könnte sagen „eingeschlurft“ – nicht ganz freiwillig, sondern im Zuge eines Sport-Workshops der Volksschule. Rilling hatte die Berichte über die Verwahrlosung an der Berliner Rütli-Schule im Fernsehen gesehen, hatte genügend gelesen über das Thema, aber den Schalter im Gehirn habe erst diese Begegnung umgelegt: „Wenn diese Kinder erwachsen sind, stehst du eines Tages an der Ampel und hast ein Messer zwischen den Rippen. Wie in Amerika.“ Ganz schwindelig wurde ihm dabei.

„Ich musste einfach etwas unternehmen“, erzählt er rückblickend über seine Motivation, Kontakt mit der Thusneldaschule aufzunehmen, die ein paar Autominuten von seiner Ballettschule Rilling-A.R.T. entfernt liegt. Der Plan: Den Schülern der siebten Klasse durch Tanz, Theater und Sprechschulung ganz nebenbei Elementar-Tugenden beibringen, die nicht nur in seiner Branche zu den Grundvoraussetzungen gehören: Disziplin, Durchhaltevermögen, Pünktlichkeit, ein ansprechendes Auftreten und Sozialkompetenz – alles was man landläufig unter gutem Benehmen zusammenfasst. Ein aufrechter Gang mit Körperspannung gehört dazu.

Das ehrgeizige Ziel: Die Ausbildungschancen der Kinder wesentlich zu steigern. Das ist eine ganze Menge, die da von den Dreizehnjährigen verlangt wird, die sich bereits in einem Jahr entscheiden müssen, wo sie ihr beruflicher Weg hinführt.

Vor einem guten Monat ist das Projekt nun gestartet. Einstimmig von den Schülern der beiden siebten Klassen als Alternative zum normalen Sportunterricht gewählt. „Die wollen das“, bekräftigt Rilling, was auch in der Turnhalle spürbar ist, wo die 40 Jungen und Mädchen einmal die Woche eineinhalb Stunden ihre Beine bis zur Schmerzgrenze in die Höhe strecken. „Oh man, das ist schwul“, stöhnt einer im Fußballtrikot. „Ja, wie du das machst schon“, kontert der gebürtige Berliner ebenso frech. Die Atmosphäre ist gelöst, die Musik mitreißend und Rilling schlagfertig und direkt. Schnell hat er sich auf die Sprache der Jugendlichen eingestellt. „Wie ick hier rede, so könnte ick in meiner Schule nich ankommen“, grinst er.

Zugegeben, die Idee Jugendliche aus sozialen Brennpunkten mit Tanzen zu fördern, ist nichts Neues und flimmert schon seit Monaten mit klangvollen Namen wie „Rhythm is it!“ oder „Dance!“ durch die Kinosäle. Dennoch distanziert sich Rilling in einer gewissen Weise von diesen Projekten, die seiner Meinung nach die Schüler am Ende mit einer furiosen Aufführung ins Leere plumpsen lassen. Er findet maßgebliche Unterschiede zwischen seinem Engagement und dem auf der Leinwand.

Bei dem Berliner Tanz- und Filmprojekt „Rhythm is it!“ beispielsweise floss von Beginn an eine Menge Geld; der bekannte Dirigent Sir Simon Rattle, die Berliner Philharmoniker und ein stattliches Filmteam gehörten mit zum Paket. Klaus-Peter Rilling und sein Kollege Matthias Hösl verdienen keinen Cent an dem neuen Pflichtfach, das ganz profan in der Turnhalle stattfindet. Eine Inszenierung am Ende – sofern sie finanziert werden kann – ist das Bonbon für die Schüler, wenn diese überhaupt eine Aufführung wollen. Das Augenmerk liegt auf der Nachhaltigkeit des Projekts, Rilling will, dass es ein Bestandteil des Lehrplans wird.

An eine Inszenierung vor Publikum ist jetzt noch nicht zu denken. Teils in Turnschuhen, teils auf Socken, lernen die Schüler klassische Ballettübungen – ohne es zu wissen, denn den Begriff „Tanz“ vermeiden Rilling und Hösl bewusst. Also wippt man zu Hiphop-Beats und Rapgesängen, beansprucht ungekannte Muskeln und springt mit aller Kraft in die Luft.

„Als ich das erste Mal vor der versammelten Mannschaft stand, musste ich schon erst einmal tief durchatmen.“, erzählt Matthias Hösl, ehemaliger Kommilitone Rillings an der Komischen Oper Berlin, der dabei ist, damit die Kinder zwei unterschiedliche Stile kennen lernen. Die anfängliche Skepsis ist mittlerweile ehrlicher Begeisterung gewichen. „Welche Fortschritte die Schüler schon nach drei Stunden gemacht haben, das ist kaum zu beschreiben!“ Erste potenzielle Solotänzer zeichnen sich ab, ehrgeizig werden die Schritte gezählt, auf der Bank jammert Sven mit dem verletzten Zeh, dass er nicht mitmachen darf, obwohl er keine Schmerzen mehr habe. Rillings Konzept trägt erste Früchte und überhaupt ist das Verhältnis des Tänzers zu den Schülern von Respekt und vorsichtigem Vertrauen gekennzeichnet.

Eine Übung der heutigen Stunde ist das selbstbewusste Aufeinanderzugehen. Es kostet viel Mut, dem Gegenüber in die Augen zu sehen und mit festem Schritt auf ihn zuzustürmen. Es hilft ein wenig, dass die Klassenlehrerin, die auf der Bank zum Zuschauen verbannt ist, dem zarten, fast schwebenden Mädchen zuschreit: „Mach ihn nieder!“ Mit jedem Mal wird es besser und weder Hösl noch Rilling sparen mit Lob. „Suuuuper, Janina!“, brüllt letzterer und jeder sieht das Aufleuchten ihrer Augen.

Das was Rilling erreichen möchte, beschränkt sich nicht auf körperliche Ertüchtigung – er will alles. „Vielleicht könnte man es eine Benimm-Schule nennen“, formuliert er vorsichtig. Kino- und Theaterbesuche stehen deshalb genauso auf dem Programm wie Hausaufgaben. Er will den Kindern die Kostüm-Schneiderei und den Orchestergraben zeigen, Gespräche über ihre Ängste und Hoffnungen führen und erste Berührungen mit der Wirtschaft ermöglichen. Denn Rilling strebt eine enge Zusammenarbeit mit IHK-Betrieben an, die er im Frühjahr einladen will, die Schüler und ihre Arbeit kennen zu lernen. Mit dieser Ankündigung erntet er ein aufgeregtes Geschrei – den Kindern ist bewusst, welch ein wichtiger Schritt das für sie ist, weil sie sich in zwei Jahren vielleicht genau bei diesen Betrieben bewerben werden. Geht es nach Rilling, sind die Schüler spätestens dann soweit, offen und sich ihrer selbst bewusst auf einen potenziellen Chef zuzugehen. „Heute traue ich ihnen das nicht zu.“

Dennoch, das Potenzial ist da. Darüber sind sich alle einig, von Rilling und Hösl, bis über die Klassenlehrer und dem Rektor der Thusneldaschule Peter Gruber. In der Tat, Rektor Gruber hat seine Hausaufgaben gemacht. Hinter ihm steht eine begeisterte Eltern- und Lehrerschaft, aber eben keinerlei Sponsoren. „Immer wenn ich mit den Firmen rede und es sich herausstellt, dass wir eine Hauptschule sind, lässt das Interesse nach. Außerdem unterstützen alle schon Gymnasien.“ Die Enttäuschung schwingt in seiner Stimme mit. „Dabei hätten es gerade unsere Schüler verdient, gefördert zu werden. Wir haben Schüler, bei denen es sich lohnt.“ Denn nicht alle wollen Profikiller werden, von Kfz-Mechaniker bis Archäologin reichen die Träume. Es sind 5 000 bis 10 000 Euro pro, die für die laufenden Kosten bis zum Schuljahresende benötigt werden, für eine Inszenierung natürlich mehr. In Fürth wäre das wohl kein Problem, die Stadt hätte Rilling eine Finanzierung gesichert – da hatte er aber schon den Rektor der Thusneldaschule mit im Boot und „allein wegen der Kohle nach Fürth zu gehen, das widerspricht ja dem Konzept.“ Nun ist Nürnberg gefragt.

Autor/in: 
Susanne Martin
 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 11|2006, Seite 8

 
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