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Fluch der Erreichbarkeit

Umfragen zufolge halten die Menschen E-Mails gleichzeitig für nervig und für unverzichtbar. Welche Folgen hat das für das Marketing?

Nichts ist mehr so wie es war. Im Kommunikationsbereich hat die Digitalisierung in den vergangenen Jahrzehnten nach Angaben des Magazins „SZ Wissen“ für inflationäre Verhältnisse gesorgt. Tag für Tag werden Millionen neuer Internet-Seiten in das weltweite Netz gestellt, geschätzte 60 Mrd. E-Mails finden täglich ihren Weg auf der Datenautobahn zum Empfänger, auch zu solchen, die auf Spams gerne verzichten wollen. Das Telefon an der Schnur gehört längst der Vergangenheit an, heute werden die mobilen Telefone fast an jeden Ort mitgenommen. 15 Mrd. SMS-Botschaften werden Schätzungen zufolge täglich weltweit auf den digitalen Weg geschickt, die Zahl der täglichen Anrufe, die an so gut wie jedem Ort empfangen werden können, werden nicht gezählt. Die Menge an Nachrichten, die in kürzester Zeit über die Menschen hereinbrechen, führt zu einer Informationsüberflutung, die viele aufstöhnen lässt.

Auch die Welt der Werbung und der Kommunikation zwischen Kunden und Unternehmen hat der digitale Wahnsinn längst erreicht. Viele Marketing-Verantwortliche halten E-Mails für das ideale Medium zur Gestaltung erfolgreicher Kundenbeziehungen: Komplett individualisierte Kommunikation, maßgeschneiderte Inhalte und Angebote, fast unmittelbare Reaktion, ortsunabhängig, hochautomatisiert und durch seine digitale Form bestens geeignet für die Einbindung in ein Kundenbetreuungssystem.

Laut der Studie Euro Media Trends 2005 der Unternehmensberatung Millward Brown betrachten Marketing-Manager die personalisierte, schriftliche Ansprache als effektivstes aller Kundenbindungsinstrumente und attestieren der elektronischen Post dabei eine hohe Wirkung. Doch mit dem einfachen Versand von Massen-Mails ist es längst nicht mehr getan. „Es ist nicht mehr so einfach“, meint Ingo Marggraf vom Arbeitskreis E-Mail-Marketing beim Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), „man muss schon Budget in die Hand nehmen, um zu wissen, wer auf diesem Kanal angesprochen werden will.“

Zwar bleibt die E-Mail nach Angaben des E-Mail-Marketingdienstleisters Emarsys der schnellste, direkte und kostengünstige Draht zum Kunden, doch dieser wird zunehmend wählerisch im Umgang mit Werbung. Nach einer aktuellen Emnid-Umfrage bestätigten 80 Prozent der Befragten die Aussage: „Die Menge von Werbe-E-Mails und Spam ist lästig.“ Nach Angaben von Emarsys stieg der Anteil nicht zugestellter Mails im Jahre 2005 von elf auf 13 Prozent, während die Öffnungs- und Klickraten im Vorjahresvergleich sanken. Nichts ist leichter als die Entsorgung elektronischer Post.

Nach Angaben des Fachblattes „direktmarketing praxis“ kursieren zahlreiche Umfragewerte über die allgemeine Akzeptanz von Werbe-E-Mails, nach denen bei personalisierten Mails im Schnitt 45 bis 70 Prozent der Empfänger bereit sind, diese auch zu öffnen. Bei ansprechendem Inhalt und attraktiven Angeboten klicken fünf bis 15 Prozent auf einen oder mehrere Links, um weitere Informationen zu erhalten oder etwas zu kaufen. Zwei bis fünf Prozent werden dann zu Käufern.

Im Arbeitsalltag durch Mails belästigt
E-Mails werden in den meisten Unternehmen längst nicht mehr nur als Medium für den Kontakt zum Kunden eingesetzt, sondern schwirren in den internen Datennetzen von Mitarbeiter zu Mitarbeiter. Durch Wegfall der Postlaufzeiten ist die interne und externe Kommunikation deutlich schneller geworden. Und bei der Emnid-Umfrage behaupteten deshalb 44 Prozent der Befragten: „Weil es E-Mails gibt, schaffe ich heute an einem Arbeitstag mehr als früher.“

Dabei haben Wissenschaftler wie Roman Soucek, Kommunikationsforscher an der Universität Erlangen-Nürnberg, festgestellt, dass sich der neue Daten- und Informationsschwall nicht nur positiv auf den Arbeitsalltag auswirkt. Bei seinen Untersuchungen hat Soucek ermittelt, dass sich die Qualität der Information deutlich vermindert hat. E-Mails sind häufig unsauber verfasst, wenig förmlich und Anlass für Missverständnisse. Dazu hat sich die Unsitte in vielen Unternehmen breitgemacht, möglichst vielen Kollegen eine Kopie zu schicken. Das lässt nicht nur die Mail-Flut künstlich anschwellen, sondern führt auch dazu, dass sich im Endeffekt keiner mehr richtig zuständig fühlt. Für den Absender ergibt sich ein durchaus willkommener Nebeneffekt. Soucek: „Er kann auf diese Weise Verantwortung abgeben. Hinterher heißt es dann: Die anderen hätten ja auch einschreiten können.“ Häufig werden CC-Mails auch dazu benutzt, um die eigene Produktivität unter Beweis zu stellen. „Die ganze Abteilung soll wissen, wie viel ich arbeite.“

Knapp 60 Prozent der von dem Wissenschaftsmagazin „SZ Wissen“ Befragten klagten denn auch darüber, dass am Arbeitsplatz per E-Mail oft überflüssige und sinnlose Informationen ausgetauscht werden. Die Vielzahl der oft belanglosen Mails, mit denen Kollegen beglückt werden, führt zu unzähligen Arbeitsunterbrechungen – amerikanische Wissenschaftler meinen bereits, eine Art „Pseudo-ADS“ entdeckt zu haben (in Anlehnung an das häufig bei Kindern diagnostizierte Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom ADS).

Viele Nutzer lassen sich allerdings nur allzu gern von ständig neuen Informationen ablenken, die per E-Mail auf ihren PC oder ihren Blackberry sprudeln. Bei der Emnid-Umfrage behaupteten 52 Prozent, E-Mails seien für sie unverzichtbar, und 56 Prozent sagten „Ich lese meine E-Mails auch nach Feierabend oder am Wochenende von zu Hause.“ Der Schwall von ständig neuen, wenn auch inhaltsleeren Informationen wirkt geradezu magnetisierend. Amerikanische Psychologen meinen bereits, der Unterschied zu einer Drogenabhängigkeit sei gering. Immer online zu sein, aktiviere dieselben Zentren im Gehirn wie die einschlägigen Rauschmittel. SZ Wissen witzelt: „Erst ein überquellendes Postfach gibt Mail-Junkies den richtigen Kick.“

Und das nervöse Hinterherlaufen hinter immer neuen Nachrichten und Informationen lässt Kreativität und konstantes Arbeiten leiden. Wenn sich Angestellte nicht einmal mehr zehn Minuten am Stück auf eine Arbeit konzentrieren können, kann die Produktivität einer Firma um 20 bis 40 Prozent sinken, hat der amerikanische Psychologe David Meyer von der University of Michigan ermittelt. Um Menschen vor dem Informationsüberfluss und damit die natürlichen Ressourcen im eigenen Kopf zu schützen, ist wohl ein eher rigider Umgang mit der Mail-Flut erforderlich.

Autor/in: 
hpw.
 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 10|2006, Seite 40

 
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