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Mehr Städter, mehr Ältere, mehr Zuwanderer

Nur 676 000 Kinder wurden laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr in Deutschland geboren – so wenig wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Wie zukunftsfähig ist Mittelfranken in demografischer Hinsicht?

Neu ist das Thema wirklich nicht, aber aktuelle Daten zur demografischen Entwicklung in Deutschland sorgen dann doch immer für Aufregung und Entsetzen in der Öffentlichkeit. Mitte März 2006 war es wieder so weit, als das Statistische Bundesamt die auf ein Rekordtief gefallenen Geburtenzahlen in Deutschland vermeldete. Selbst im Nachkriegsjahr 1946 kamen 922 000 Kinder zur Welt, 1964 wurden in der damaligen Bundesrepublik und in der DDR insgesamt sogar 1,357 Mio. Säuglinge geboren. Auch im europäischen Vergleich nimmt Deutschland inzwischen mit einer Geburtenziffer von 8,5 Geburten auf 1 000 Einwohner den letzten Platz ein. In Ländern wie Frankreich (12,7) oder Großbritannien (12,0) liegt diese Ziffer um etwa die Hälfte höher.

Von einer „dramatischen“ Entwicklung geht deshalb auch Michael Hüther, Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft, aus: „Die Verfügbarkeit von Humankapital wird sich zusehends verschlechtern und zur Wachstumsbremse.“ In Agenturmeldungen wurden die Deutschen als „Schrumpfvolk“ deklariert, die „Süddeutsche Zeitung“ sprach über „die Angst vor dem Kind“, und die „Abendzeitung“ forderte „Neue Babys braucht das Land“. Und die „Bild“ nahm die Baby-Flaute sofort zum Anlass, um die Frage zu stellen: „Ist Nürnberg kinderfeindlich?“, denn in einem Vergleich der Geburtenzahlen in den 50 größten deutschen Städten nahm die Noris nur den 28. Platz ein.

Prognose für Mittelfranken
Weitaus weniger dramatisch sieht Volker Birmann vom Bayerischen Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung die aktuelle Situation und die Entwicklungen für die kommenden Jahrzehnte. Bei der letzten verfügbaren Bevölkerungsprognose, die auf gesicherten Daten bis ins Jahr 2023 reicht, haben die Statistiker für Bayern einen Bevölkerungszuwachs von 2,9 Prozent errechnet, auch Mittelfranken soll in den nächsten 17 Jahren fast drei Prozent mehr Bürgern eine Heimat bieten. Zwar übersteigt die Zahl der Gestorbenen in allen Kreisen die Zahl der Geborenen, so dass die natürliche Bevölkerungsbewegung allein zu einem Bevölkerungsrückgang führen würde. Doch die zukünftigen Werte hängen stark von der Zuwanderung ab. Nach Angaben von Birmann wird die Einwohnerzahl Mittelfrankens von 1,707 Mio. vorerst nur geringfügig wachsen. Ab 2006 ist ein leichter, 2011 mit Beginn der Freizügigkeit nach der EU-Osterweiterung ein stärkerer Anstieg vorhersehbar. Im Jahr 2023 wird dann die Einwohnerhöchstzahl mit 1,756 Mio. erreicht sein.

Unterschiedliche Entwicklung in den Landkreisen
Allerdings wird dann auch hier eine Verschiebung der Bevölkerung in immer höhere Altersjahre deutlich sichtbar, d.h. der Anteil der Rentner und Pensionäre steigt, während es immer weniger Nachwuchs gibt. Zudem wird nach der vorliegenden Prognose, deren Aktualisierung nach Birmanns Angaben nur marginale Veränderungen ergeben wird, die Entwicklung in den Landkreisen und kreisfreien Städten Mittelfrankens durchaus unterschiedlich verlaufen. So rechnen die Bevölkerungsstatistiker in einzelnen Kreisen der Industrieregion mit weit überdurchschnittlichen Zunahmen. Für die Stadt München wird bis 2023 ein Wachstum der Bevölkerung um 10,6 Prozent erwartet, Spitzenreiter in Mittelfranken wird der Landkreis Erlangen-Höchstadt mit 6,7 Prozent sein. Birmann: „Westmittelfranken wird dagegen mit einem Bevölkerungsrückgang konfrontiert.“ Am höchsten soll bis 2023 der Rückgang im Landkreis Neustadt a.d.Aisch - Bad Windsheim mit 1,3 Prozent ausfallen.

Demografie als Megathema
Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik haben die demografische Entwicklung bereits seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten als so genanntes Megathema erkannt. Demografie, so ihre Erkenntnis, wird das sozio-ökonomische System in entscheidender Weise beeinflussen. Die unterschiedlichen Trends stellen die Handelnden vor allem in den Industriestaaten vor enorme Herausforderungen. Bei Deutsche Bank Research (dbresearch) heißt es dazu: „Ohne tief greifende Reformen werden die umlagefinanzierten Rentensysteme in wenigen Dekaden nicht mehr tragbar sein, wenn sich die gleiche Zahl von Erwerbstätigen und Rentnern gegenüberstehen. Die Nachfragestruktur wird sich altersbedingt merklich ändern, die Renditen in den Finanzmärkten wahrscheinlich sinken und das Wachstumspotenzial sich verringern.“ In einer aktuellen Studie („Die demografische Herausforderung“ vom 15. Februar 2006) kommt dbreserach in Modell-Simulationen zu den Ergebnissen:

  • Das jährliche Wachstumspotenzial der Wirtschaft wird sich von derzeit etwa 1,25 Prozent bis etwa 2060 auf nur noch 0,25 Prozent verringern.
  • Die jährliche Zunahme der realen Pro-Kopf-Einkommen wird bis 2050 um bis zu 0,3 Prozentpunkte gedämpft und sinkt auf knapp unter ein Prozent.
  • Die Kapitalrendite verringert sich unter gleich bleibenden Bedingungen bis 2060 um rund 100 Basispunkte.

Arbeitsmarkt und Beschäftigung
Auch im Wirtschaftsleben wird die demografische Entwicklung selbstverständlich Spuren hinterlassen. Nach einer aktuellen Langfristprojektion des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) wird die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland bis 2010 fast wieder das Niveau von 2001 erreichen und bis 2020 um etwa 1,3 Mio. zunehmen. In der Land- und Forstwirtschaft, im Bergbau und im verarbeitenden Gewerbe wird es weiterhin Beschäftigungsverluste geben, in der Dienstleistungsbranche dagegen Beschäftigungsgewinne. Unter gleich bleibenden Bedingungen wird die Entwicklung in West- und Ostdeutschland konträr verlaufen: Während im Westen die Zahl der Erwerbstätigen bis 2020 um 2,3 Mio. kräftig steigen wird, ist im Osten mit einem Abbau von einer Mio. Stellen zu rechnen.

Weniger Arbeitskräfte ab 2015
Erst ab 2015 wird in Deutschland das Angebot an Arbeitskräften wegen des Bevölkerungsrückgangs spürbar zurückgehen. Bis 2020 nimmt das so genannte Erwerbspersonenpotenzial um rund 1,4 Mio. Menschen ab, bis 2050 um rund neun Mio. – selbst bei steigender Erwerbsquote der Frauen und einer jährlichen Nettozuwanderung von 200 000 Personen.

Mit sinkender Bevölkerung wird aber nicht nur die Zahl der arbeitsfähigen Menschen zurückgehen: Gleichzeitig altern die Erwerbstätigen in ihrer Gesamtheit. Die Zahl der Erwerbstätigen jüngeren und mittleren Alters wird dramatisch sinken. In Verbindung mit einem Stillstand der Bildungsentwicklung kann es nach Ansicht des IAB schon bald zu ernsthaften Problemen bei der Rekrutierung qualifizierter Fachkräfte kommen. Die Hoffnung, dass mit dem sinkenden Arbeitsangebot die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland verschwinden wird, ist nach Auffassung des IAB verfehlt. Bereits heute gibt es bei einer offiziellen Arbeitslosenzahl von knapp fünf Mio. Bereiche in der Wirtschaft, die vergeblich qualifizierte Arbeitskräfte suchen. Diese Arbeitslosigkeit wird bei einem beschleunigtem Strukturwandel auch künftig bestehen bleiben, wenngleich die Zahl der Arbeitslosen nach 2015 deutlich geringer als derzeit sein wird.

Wanderung von Ost nach West hält an
Der demografische Wandel ist auch in den Kommunen der Bundesrepublik das Thema der Zukunft, so das Ergebnis einer repräsentativen Bürgermeisterbefragung, die die Bertelsmann Stiftung im Februar und März 2005 in Kommunen mit mehr als 10 000 Einwohnern durchgeführt hat. Demnach halten mehr als 70 Prozent der Bürgermeister das Thema für sehr wichtig. Nur ein Drittel der befragten Kommunen gibt jedoch an, sich bereits ausreichend damit zu beschäftigen. Die wichtigsten Handlungsfelder aus Sicht der Kommunen sind: Schulentwicklung, bürgerschaftliches Engagement, Wirtschaftsförderung, Stadtplanung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie altersgerechtes Wohnen. Zum Teil setzen große und kleine Kommunen aber unterschiedliche Prioritäten: So haben die Themen Armutsbekämpfung, Förderung benachteiligter Gruppen, soziale Eingliederung und Ghettobildung für die großen Städte eine wesentlich höhere Bedeutung als für kleine Gemeinden.

Noch stabilisiert die Binnenwanderung die westdeutschen Kommunen auf Kosten ihrer ostdeutschen Nachbarn. Die Folgen: Der Rückbau von Infrastruktur ist für 60 Prozent der Kommunen im Osten ein Thema mit hoher Priorität; im Westen sind es nur 40 Prozent. Der Geburtenrückgang wird dafür sorgen, dass dieses Thema auch in den westlichen Bundesländern sehr bald ganz oben auf der Tagesordnung stehen wird.

Autor/in: 
Horst Peter Wickel
 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 04|2006, Seite 8

 
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