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Lob der Lücke

Sie ist das Gegenteil von Fortschritt und doch heiß ersehnt: die Pause.

Unser Leben und Arbeiten ist voller Dynamik. Maschinen müssen unentwegt laufen, Läden ständig Kunden anlocken, Gelder gewinnbringend zirkulieren, Verkehrsströme ungehindert fließen. Gleichzeitig sehnen wir uns nach Ruhe, nach Erholung, nach Pause. Ob sie acht Minuten dauert oder drei Wochen, immer hat sie Anfang und Ende, Vorher und Nachher. Denn ihr Wesen ist die Unterbrechung – Lücke im Kontinuum von Tätigkeit und Tempo. Gäbe es das Innehalten nicht, wären Theaterstücke und Kompositionen langweilig, Schulstunden und Arbeitstage unerträglich, Cafés und Imbissbuden überflüssig, kämen Fußballfans nicht aufs Klo, LKW-Fahrer nie zur Ruhe und Kriegsparteien noch später zur Vernunft.

Die vielleicht bedeutsamste Pause ist der Waffenstillstand. Früher dazu vereinbart, die Verwundeten und Toten vom Schlachtfeld zu tragen, ist er heute oft die einzig erzielbare Alternative zum Friedensvertrag. Moderne Kriege kennen keine Ruhezeiten. Auch bei schlechter Sicht und nachts wird mit Hilfe neuester Technik weitergekämpft. Zeugen vergangener Schlachten muss es merkwürdig berührt haben, wenn der infernalische Lärm von Kanonen, Granaten, Minen und schreienden Soldaten verstummte, weil die Nacht kam und eine Kampfpause erzwang.

Die Ruhe zwischen zwei Stürmen ist unheimlich, die Stille im Lärm beansprucht besondere Aufmerksamkeit. Im christlich geprägten Bayern pausieren die Glocken zwischen Gründonnerstag und Ostermorgen, um das Passionsgeschehen durch Stille zu heiligen. Dieselbe Absenz von Geräusch als Ausdruck der Trauer macht sich zunutze, wer für eine kurze Zeit Arbeitslärm, Gespräche oder Stadiongegröle stilllegt für eine Schweigeminute zum Totengedenken. Als Stilmittel verwendet Johann Sebastian Bach die Ruhe in der Matthäus-Passion, wo eine Generalpause vor der Phrase „... und verschied“ Jesu Tod markiert. Wenn alle Instrumente einen Takt lang schweigen, entsteht eine elektrisierende Stille im Konzertsaal, die sich gründlich vom hustenden, raschelnden Intermezzo zwischen den Sätzen unterscheidet. Von Erwin Schulhoff stammt gar eine Komposition, die nur aus Pausen besteht, aber Satzanweisungen trägt wie „molto espressivo“.

Pausen strukturieren unser Denken und Sprechen. Jeder gute Redner wird die Denkpausenfüllsel „äh“ und „hm“ meiden, aber die Kunstpause als Stilelement verwenden. Ohne Pause keine Pointe. Aber auch im täglichen Miteinander dramatisieren Pausen unsere Kommunikation: „Ich muss dir was sagen (Pause). Also, ich …“ In der geschriebenen Sprache entwickelten sich verschiedene Methoden, Stopps zu verlangen: Komma, Punkt, Strichpunkt, Doppelpunkt, Gedankenstrich, drei Punkte. Wie Pausen Bedeutung verändern können, demonstriert ein Satz ohne Interpunktion: „Der Mensch denkt Gott lenkt.“ Je nach verwendetem Satzzeichen (und Intonation) verschiebt die Pause den Sinn: „Der Mensch denkt: Gott lenkt“ oder „Der Mensch, denkt Gott, lenkt“ oder „Der Mensch denkt – Gott lenkt“.

K F Z
Durchschnittlich 374 Tage seines Lebens verbringt der Mensch mit Warten. Er wartet an der Ampel und am Automaten, im Bahnhof, Flughafen und Stau, beim Arzt, an der Kasse. Vor allem wartet er darauf, dass sich seine Grafik am Bildschirm aufbaut, dass ein Link zur richtigen Site leitet, dass er Zugang zu Daten erhält. Diese Zeithemmer indes sind das Gegenteil von Pausen. Nicht zu Erholung führen sie, sondern zum Gefühl der Vergeudung. Solch ärgerlichem Leerlauf setzt eine wirkliche Pause die städtische Genuss-Inszenierung entgegen: für eine halbe Stunde ins „Kaufhaus der Sinne“, ins Sonnenstudio oder in die Sauerstoffbar, Skaten, Sushi, Latte Macchiato. Wer an der Arbeitsstätte bleibt, hat die Wahl zwischen Kantine, Lunchbox und Snack. Hart ist die Konkurrenz um die verdauliche Füllung von Pausen. Lila sollen sie sein, knoppers, milchschnittig oder Müller. Da können Ernährungsberater noch so energisch das mit Biokäse und Kresse belegte Vollkornbrot hochhalten – was müde Menschen munter macht, lässt sich allerorten in die Formel KFZ fassen: Kaffee, Fastfood, Zigaretten. Das gilt bekanntlich auch für Schüler. Häufig setzen sich die bereits essgestörten und zu trägen Kinder in der Pause nur noch in Bewegung, um ihr Geld zu den Schokoriegeln des Hausmeisters zu tragen, sich ein verschwiegenes Eck zum Rauchen oder aber zum schlank machenden Verzicht auf Brötchen und Saft zu suchen. Es gibt ihn freilich noch, den Schulhof mit Klettergeräten, kickenden Jungs und Mädchen beim Tischtennis. Aber der dringende Ausgleich zum Unterricht sieht bei älteren Schülern oft so aus: „Rumstehen mit dem MP3-Player und quatschen“. So berichtet es eine Realschülerin.

Göttliche Ruhezeit
Kurzschlaf, Sekt, Börsennachrichten, Butterbreze, Computerspiel, Pfeife – was passt in eine Pause hinein? Wird sie aktiv oder passiv genutzt, vollgestopft oder verplempert? Jedenfalls bedeutet sie eine kurze Erlösung von der immerwährenden Betriebsamkeit, ein Interregnum der Muße. Für den amerikanischen Wirtschaftstheoretiker Frederick Winslow Taylor (1856–1915) war sie nur ein notwendiges Übel im standardisierten und damit hoch effektiven Arbeitsablauf, in dem von der Beleuchtung bis zum tausendfach wiederholten Handgriff des Mechanikers alles geregelt sein sollte. Dass durch die monotone Arbeit an den Fließbändern der Autofabriken zwar Akkorde möglich wurden, jedoch die Fehlzeiten immer mehr zunahmen, zeigte erst das Jahre andauernde Rationalisierungsbestreben im Zeichen des Taylorismus. Man begann zu begreifen, dass der Arbeiter nicht Teil der Maschine ist, sondern die Maschine mit seinen Bedürfnissen in Einklang gebracht werden muss. Und ein elementares Bedürfnis ist die Auszeit, in der Augen, Ohren, Rücken, Hände und Gedanken zur Ruhe kommen können.

Einfacher als in der industriellen Massenfertigung sind die Ruhepausen in Handel und Gewerbe einzuhalten. Zwar geht auch hier seit langem die Tendenz zum anhaltend geöffneten Betrieb und zu flexiblen Ladenöffnungszeiten, doch eröffnet ein Blick zu den europäischen Nachbarn auch andere Perspektiven. Wie den Deutschen ihre akustische Mittagsruhe, in der Rasenmäher, Bohrmaschinen und Kreissägen zu schweigen haben, ist den Spaniern, Italienern oder Griechen ihre umfassende Siesta heilig. Was man vormittags nicht schafft, erledigt man am Abend, ob Autoreparatur, Friseur oder Einkauf. Der frühe Nachmittag aber gehört den Müßiggängern, die ihren Laden zusperren, ein Gläschen trinken, ein Schläfchen oder Schwätzchen halten.

Und dann ist Zeit für Geschichten wie diese: Als die Magd Notburga einst von ihrem Dienstherrn, einem Bauern, gezwungen werden sollte, während der vertraglich vereinbarten Vesperstille im Feld zu arbeiten, ereignete sich ein Wunder: Ihre Sichel schwebte frei in der Luft. Dies war das göttliche Zeichen, die Ruhezeit zu ehren. Deshalb ist die heilige Notburga die Schutzpatronin der Pause. Ihr Wappen könnte ein Tierchen zieren, das zu den Bilchen gehört. Jedes Jahr macht es sieben Monate lang Pause. Glücklicher Siebenschläfer!

Autor/in: 
Gudrun Schury
 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 09|2006, Seite 8

 
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