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Soziale Marktwirtschaft

Ist Erhard heute noch aktuell?

Ludwig-Erhard-Initiativkreis Fürth diskutierte Grundlagen der Wirtschaftspolitik. Kann uns Ludwig Erhards Politikansatz, der vor mehr als einem halben Jahrhundert das deutsche Wirtschaftswunder begründete, heute noch helfen? Dr. Horst Friedrich Wünsche, ein Wegbegleiter Erhards, ging am 29. Februar in Fürth dieser Frage nach.

Für seinen Vortrag vor dem von Evi Kurz geleiteten Initiativkreis wählte er einen historisch biografischen Einstieg. Wünsche schilderte einen weithin unbekannten Erhard, der als Invalide aus dem ersten Weltkrieg heimgekehrt war und dessen Lebensplanungen durch seine körperlichen Behinderungen ruiniert waren. Erhard habe im Herbst 1919 – nach eigenem Bekunden: „rein zum Zeitvertreib“ – ein Studium an der neu eröffneten Handelshochschule in Nürnberg aufgenommen. Aber schon bald hätten ihn die wirtschaftlichen und sozialen Fragen fasziniert, die es damals zu lösen galt. Erhard habe sich mit zunehmender Intensität, bald geradezu leidenschaftlich mit der Frage befasst, wie es denn möglich sei, wirtschaftliche Freiheit, die ein Menschenrecht sei, und soziale Sicherheit, nach der jedermann verlange, zugleich und für alle Bürger zu garantieren. Und Erhard sei es dabei nicht um eine nur zeitgerechte, nur für die damalige Situation angemessene, sondern um eine generelle, prinzipiell und konzeptionell begründete Lösung gegangen.

Wünsche umriss, wie sich Erhards Forschungsinteressen während seines Studiums ausweiteten, wie er sich von der Betriebs- zur Volkswirtschaftslehre wandte, wie er zunächst Soziologie und schließlich Sozialpsychologie und Sozialphilosophie studierte. Er schilderte die Grundfragen, mit denen sich Erhard befasste und die er unter Anleitung seines akademischen Lehrers in Frankfurt am Main, des „liberalen Sozialisten“ Franz Oppenheimer, bedachte. Erhard habe unter anderem die „Theorie der ethischen Gefühle“ von Adam Smith (1759) und die Einwendungen studiert, die vor allem der Philosoph Max Scheler hiergegen vorgetragen hatte. Er hatte aber auch beim Studium des ersten Bandes von „Das Kapital“ von Karl Marx die Mängel von Ideologien und Dogmen erkannt und die geistigen Grundlagen einer völlig neuen: einer freiheitlichen und sozial zufriedenstellenden Politik konzipiert. An dieser politischen Konzeption habe Erhard dann später seine praktische Politik der Sozialen Marktwirtschaft konsequent orientiert.

Die große Bedeutung einer solchen freiheitlichen und sozialen Politik sei Erhard vollends bewusst geworden, als er 1925 sein Studium in Frankfurt abrupt abbrechen musste, um das Geschäft seiner Eltern, das in der großen Inflation 1922/23 schwer gelitten hatte und von dem auch er lebte, zu retten. 1929 – nachdem das Geschäft verloren war - konnte Erhard seine ordnungspolitischen Studien wieder aufnehmen, und zwar in persönlicher Betroffenheit und nach dem 30. Januar 1933 dann auch im Bewusstsein, dass eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die es nicht versteht, Wirtschaftskrisen, Inflation und Massenarbeitslosigkeit zu verhindern und die damit breite Bevölkerungskreise einem ungewissen Schicksal ausliefert, sich auch politisch verhängnisvoll auswirken kann.

„Wirtschaftswunder“ ohne Staatsverschuldung

 Wünsche verwies darauf, dass viele Deutsche – überraschenderweise auch viele junge Menschen, die Erhard gewiss nicht persönlich erlebt haben – ihn als „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“ bezeichnen. Die wenigsten wüssten jedoch, dass das „deutsche Wirtschaftswunder“ nicht nur in hohen Wachstumsraten des Sozialprodukts bestand, sondern dass mit ihm auch Preisstabilität und Vollbeschäftigung sowie dank Erhards liberaler Außenhandels- und Devisenpolitik eine schnelle Rückkehr der deutschen Wirtschaft auf die Weltmärkte gesichert wurden.

Kaum bekannt sei auch, dass es zur Zeit des Wirtschaftswunders nur minimale Staatsverschuldung gab. Für fast alle, die Erhard schätzen, sei es sogar eine erstaunliche Neuigkeit, dass Erhard als Bundeskanzler Ende 1966 zurückgetreten ist, weil er sich weigerte, den Weg in die Staatsverschuldung mitzugehen, und dass es damals um eine aus heutiger Sicht vergleichsweise winzige Summe ging – um 1,35 Mrd. DM.

Erstaunen erwecke meistens auch die Tatsache, dass das deutsche Wirtschaftswunder 18 Jahre lang dauerte und dass es in einer Zeit geschah, in der in fast allen europäischen Ländern die Wirtschaft stagnierte und einige Länder – zum Beispiel Großbritannien – für wirtschaftlich hoffnungslos krank gehalten wurden. Natürlich könne keiner, der mit dem Wirtschaftswunder nur hohes Wachstum verbindet, die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen ermessen, die damals eintraten. Aber jeder, der sich damit befasst, würde einsehen, dass hohes Wirtschaftswachstum, Stabilität und Vollbeschäftigung Voraussetzungen seien, damit hohe Löhne gezahlt und günstige Arbeitsbedingungen geschaffen werden, so dass der Wohlstand schnell wächst, sich Wohlstandgewinne breit verteilen und dass schließlich „Wohlstand für alle“ und damit soziale Zufriedenheit entsteht.

Angesichts solcher Erläuterungen würden auch manche Jüngere glauben, was ihre Großeltern ihnen erzählt haben, dass man in der Ära Erhard zwar hart arbeiten musste, dass es aber Aufstiegschancen für jeden gab, der fortkommen wollte, dass man ohne weiteres Ausbildungsstellen fand, dass man sich frühzeitig selbständig machen konnte und dass man schon als junger Mensch das Gefühl hatte, gebraucht zu werden und gesellschaftlich anerkannt zu sein.

Wachstum nicht Ziel sondern Folge

 Zum Verblüffen vieler seiner Zuhörer erläuterte Wünsche, dass Vollbeschäftigung und Preisstabilität für Erhard Grundziele waren, die sich aus seiner Konzeption zwingend ergaben, während Wirtschaftswachstum – das man doch allenthalben für das wesentliche Kennzeichen des Wunders halte – für Erhard kein Ziel, sondern nur Folge seiner Politik war. Ähnliches galt für den Wettbewerb. Auch er hatte für Erhard eine andere Funktion, als er heute hat. Erhard hat durch den Wettbewerb dafür sorgen wollen, dass sich die Wirtschaft am Verbrauch orientiert und keine Kapazitäten aufgebaut werden, die eines Tages ungenützt bleiben. Heute ginge es der Wettbewerbspolitik vor allem darum, starke, international wettbewerbsfähige Unternehmen sogenannte „global players“, zu schaffen. Auch Erhards Aversion gegen jede Art von Staatsverschuldung sei nicht nur fiskalpolitisch und ökonomisch, sondern sogar verfassungsrechtlich begründet gewesen.

Mit den vielfach nur vordergründigen Bekenntnissen zu Erhards Sozialer Marktwirtschaft erklärte Wünsche, dass Erhards Name in der Bevölkerung noch immer einen guten Ruf genießt, dass aber mit Sozialer Marktwirtschaft nicht mehr die Erhardsche Politik, sondern die gegenwärtige Politik assoziiert wird, von der nach jüngsten Umfragen fast 80 Prozent der Bevölkerung „keine gute Meinung“ haben. Es sei deshalb schwer, für eine Revitalisierung der Erhardschen Politik zu werben.

Rückkehr zu Erhard?

Dabei bedeute Rückkehr zu Erhard nicht Rückkehr zu den Maßnahmen, die Erhard einst durchgeführt hat, sondern Besinnung auf die Prinzipien, die seiner Politik zugrunde lagen. Gerade die heute weithin als völlig selbstverständlich angesehene staatliche Wachstumspolitik zeige, wie weit sich die aktuelle Politik von Erhards Überzeugungen und Erkenntnissen entfernt habe: „Staatliche Wachstumspolitik kann nach Erhard niemals eine freiheitliche Politik sein; sie verlangt immer staatliche Interventionen in den Bereich der Wirtschaft und begründet damit dann auch immer entsprechende sozialpolitische Maßnahmen.“

Das Ergebnis seiner Ausführungen fasste Wünsche knapp zusammen: „Ich bin der Meinung, dass es gegenwärtig in Deutschland keine Soziale Marktwirtschaft im Sinne von Ludwig Erhard mehr gibt.“ Da aber Wirtschaftsfreiheit und soziale Sicherheit für die moderne Wirtschaftspolitik unverzichtbar wichtig sind, folge daraus, dass Erhards Konzeption in vollem Umfang revitalisiert werden muss. Im Anschluss an die Veranstaltung stellte die Vorsitzende des Ludwig-Erhard-Initiativkreises, Evi Kurz, das erste Heft einer neuen Schriftenreihe vor. In diesen „Ludwig-Erhard-Studien“ sollen ausgewählte Aspekte der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie Ludwig Erhard konzipiert und betrieben hat, in allgemein verständlicher Weise erörtert werden. Im ersten Heft dieser Reihe beschreibt Dr. Horst Friedrich Wünsche den Weg der Sozialen Marktwirtschaft vom Wirtschaftswunder zur Schuldenkrise in sechs Etappen und skizziert in einem Exkurs das breite Spektrum des modernen liberalen Denkens zwischen Friedrich A. von Hayek und Ludwig Erhard.

Leserbriefe

In dem sehr lesenswerten Artikel über den Vortrag von Dr. Horst Friedrich Wünsche in der April-Ausgabe fehlt aus meiner Sicht eine Einschätzung von Ludwig Erhard, die mir heute brandaktuell erscheint. Über die letzten Ziele des Wirtschaftens schreibt er 1957:

„Solange man auf der politischen Ebene nach dem Motto verfährt: ‚Lasst uns weniger arbeiten, auf dass wir mehr konsumieren können!’, sind wir auf dem falschen Wege. Wenn der angestoßene Entfaltungsprozess aber in dem Sinne verläuft, dass unser Volk neben dem unverzichtbaren Wert auf Sicherung materieller Lebensführung in steigendem Maße eine geistige oder seelische Bereicherung als nützlich und wertvoll erachtet, dann werden wir in ferneren Tagen auch zu einer Korrektur der Wirtschaftspolitik kommen müssen. Niemand dürfte dann so dogmatisch sein, allein in der fortdauernden Expansion, d.h. im Materiellen, noch länger das Heil erblicken zu wollen. (…) Ich glaube nicht, dass es sich bei der wirtschaftspolitischen Zielsetzung der Gegenwart gleichsam um ewige Gesetze handelt. Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen ‚Fortschritt’ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen. Hier ist dann aber nicht mehr nur der Wirtschaftsminister, sondern in gleicher Weise der Theologe, der Soziologe und der Politiker angesprochen.“

Wer in der Politik wagt heute eine so einfache Wahrheit auszusprechen? Bei Erhard steht die Wertepyramide noch auf den Füßen.

Anselm Stieber, Hersbruck

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 04|2012, Seite 20

 
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