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Bauvorhaben

Nahe am Nachbarn gebaut

Die Stadt Nürnberg hat beschlossen, bei Bauvorhaben geringere Abstände zu den Nachbarn zuzulassen. Von Dr. Tobias Waldmann

Wie weit dürfen neue Gebäude höchstens an benachbarte Bauten heranreichen? Dazu macht die Bayerische Bauordnung (BayBO) konkrete Angaben. Die Gemeinden haben jedoch die Möglichkeit, durch eigene Satzungen von diesen Vorgaben abzuweichen und die vorgeschriebenen Abstände im gesamten Gemeindegebiet oder in Teilen davon zu verringern. Die Stadt Nürnberg hat jetzt von dieser sogenannten „Experimentierklausel“ Gebrauch gemacht und begründet dies mit dem hohen Bedarf an neuen Wohnungen für alle Bevölkerungsgruppen. Denn durch die geringeren Gebäudeabstände kann der Gebäudebestand verdichtet werden. Am 1. August 2016 ist die neue Abstandsflächensatzung (Satzung über die Tiefe der Abstandsflächen – AFS) nun in Nürnberg in Kraft getreten. Die anderen großen Städte in Mittelfranken (Fürth, Erlangen, Ansbach und Schwabach) haben bislang keine derartige Satzung beschlossen, dürften aber die Nürnberger Erfahrungen mit den verkürzten Abstandsflächen genau verfolgen.

Die Nürnberger Satzung gilt in unbeplanten Gebieten sowie in Gebieten mit Bebauungsplänen. Ausgenommen sind allerdings Bebauungspläne, deren Entwurf nach dem 1. Juni 1994 öffentlich ausgelegt wurde und in denen sich die Grenz- und Gebäudeabstände aus städtebaulichen Festsetzungen ergeben. Auch wenn in diesen Bebauungsplänen ausdrücklich Maße für die Tiefe von Abstandsflächen festgesetzt wurden, wird die neue Satzung nicht angewandt.

Die „Maßeinheit“ für die erforderliche Abstandsflächentiefe ist „H“ – das ist die Wandhöhe des geplanten Hauses inklusive der Dachhöhe, die ebenfalls nach bestimmten Vorgaben einberechnet werden muss. Die Bayerische Bauordnung sieht grundsätzlich eine erforderliche Tiefe der Abstandsfläche von 1 H vor, in Nürnberg sind nun 0,4 H ausreichend, in Gewerbe- und Industriegebieten reduziert sich der Abstand von 0,25 H auf 0,2 H. Einzuhalten sind aber immer mindestens drei Meter Abstand. Nürnberg folgt damit den Empfehlungen der Musterbauordnung (MBO 2002), die schon in mehreren Bundesländern in verschiedenen Abstufungen umgesetzt wurden, jedoch noch nicht in Bayern.

In Nürnberg weitgehend nicht mehr anwendbar ist das sogenannte 16-Meter-Privileg. Dieses besagt, dass an zwei Seiten eines Hauses mit jeweils nicht mehr als 16 Metern nur eine Abstandsflächentiefe von 0,5 H notwendig ist, wobei jedoch ein Mindestabstand von drei Metern einzuhalten ist. Weil die Nürnberger Satzung das Mindestmaß sogar auf 0,4 H verringert, gilt dieses Abstandsflächenprivileg der BayBO naturgemäß nicht mehr.

Anrechnung von Dächern

Etwas kompliziert ist die Art und Weise, wie die Dachhöhen eingerechnet werden müssen, um die Abstandsflächentiefe „H“ zu berechnen. Welche Abstände zum Nachbarn auf der Traufseite des geplanten Gebäudes (also auf der geneigten, in der Regel mit Ziegeln eingedeckten Seite des Hauses) einzuhalten sind, regelt die Nürnberger Satzung abweichend zur Bayerischen Bauordnung: Hat das Dach eine Neigung von weniger als 70 Grad, wird ein Drittel der Dachhöhe auf die Höhe der Wand addiert. Beispiel: Wandhöhe des Gebäudes sechs Meter, Dachhöhe drei Meter. Damit ergibt sich eine Abstandsflächentiefe „H“ von sieben Metern. Bei steileren Dächern wird die gesamte Dachhöhe genommen und zur Wandhöhe hinzugezählt (in diesem Beispiel: Abstandsflächentiefe „H“ ist neun Meter). Um die tatsächlich einzuhaltenden Abstandsflächentiefen nach der neuen Nürnberger Satzung zu erhalten, müssen die ermittelten Abstandsflächentiefen „H“ noch mit dem jeweiligen Faktor (0,4 oder 0,2) multipliziert werden. In Nürnberg müssen also Dächer ab dem ersten Grad Neigung zur Wandhöhe hinzugerechnet werden, um die notwendige Tiefe der Abstandsfläche zu berechnen. In der Bay-
erischen Bauordnung erfolgt dagegen erst ab 45 Grad Dachneigung eine Hinzurechnung zur Tiefe der Abstandsfläche. In diesem Punkt ist die Nürnberger Regelung also etwas strenger.

Anders wird die Berechnung des Abstandes auf der Giebelseite des geplantes Gebäudes gehandhabt: Die Höhe des Giebels wird vollständig zur Wandhöhe addiert. Oder anders gesagt: Hier geht die vollständige Höhe des Hauses (inklusive Dach) in die Abstandsberechnung ein. Im vorgenannten Beispiel beträgt die Abstandsflächentiefe „H“ also neun Meter. Der vorgeschriebene Abstand zum Nachbarn ist damit bei einer Dachneigung von unter 70 Grad auf der Giebelseite größer als auf der Traufseite. Dies ist auch sinnvoll, weil der Giebel dem Nachbarn mehr Licht nimmt, als dies auf der geneigten Seite des Daches der Fall ist.

Es ist zu erwarten, dass die neuen Regelungen in zahlreichen Wohngebieten zu einer erheblichen Nachverdichtung führen. In Innenstadtbereichen mit bereits dichter und geschlossener Bauweise sind die Auswirkungen wahrscheinlich gering. Auch in Gewerbegebieten wird es wohl zu keinen großen Nachverdichtungen kommen, weil die vorgeschriebene Tiefe der Abstandsflächen für Gewerbebauten nur leicht reduziert wurde.

Die Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse müssen auch weiterhin eingehalten werden. Eine große Bedeutung wird diese Frage bei der Erteilung von grundsätzlich möglichen Abweichungen von der Abstandsflächensatzung erlangen. So ist im Einzelfall zu entscheiden, ob bei Abweichungen dennoch gesunde Wohnverhältnisse vorliegen und die Ziele der Abstandsflächenregelungen (Belichtung, Belüftung und Brandschutz) gewahrt bleiben.

Vor- und Nachteile

Die neue Satzung eröffnet Bauherren und Architekten die Möglichkeit, auch kleinere Grundstücke sowie Grundstücke mit atypischen Zuschnitten einfacher zu bebauen. Die andere Seite der Medaille ist naturgemäß, dass der Nachbarschutz erheblich eingeschränkt wird. Es ist deshalb zu erwarten, dass künftig noch mehr Nachbarschaftsstreitigkeiten entstehen, da die Gebäude deutlich enger nebeneinander stehen können.

Die Städte und Gemeinden können durch eigene Satzungen dem „Flächenfraß“ entgegenwirken, indem sie Flächen besser nachverdichten. Allerdings haben sie dabei Sorge zu tragen, dass das Orts- und Straßenbild nicht durch übermäßig intensive Bebauung in Höhe und Breite beeinträchtigt wird. Das wäre der Fall, wenn überdimensionale Gebäudekomplexe mit zu geringen Abständen entstehen. In Bebauungsplänen muss deshalb noch sorgfältiger auf diesen Aspekt geachtet werden,
z. B. indem das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die Bauweise genau festgeschrieben werden. Zudem kann die Stadt Nürnberg in Bebauungsplänen die einzuhaltenden Abstände auch größer festsetzen, als dies jetzt in der Satzung geregelt wurde.

Autor/in: 

Dr. Tobias Waldmann, LL.M., ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Dr. Waldmann, Kohler & Kollegen in Nürnberg (tobias.waldmann@waldmann-kohler.de, www.waldmann-kohler.de).

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 09|2016, Seite 94

 
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