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„Verlust an geistiger Jugendlichkeit“

 

 

Erstmals fand das „Kammergespräch“ der IHK außerhalb der Mauern der Stadt Nürnberg statt. „Wir wollen damit dem 1000-jährigen Erlangen, einer Perle unserer Region, unsere Referenz erweisen“, so IHK-Präsident Hans-Peter Schmidt bei der Begrüßung der Gäste im vollbesetzten großen Saal der Erlanger Heinrich-Lades-Halle. Im Stile einer Podiumsdiskussion, moderiert von Ursula Heller vom Bayerischen Rundfunk, unterhielten sich Siemens Vorstandsvorsitzender Dr. Heinrich von Pierer, DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun und Mittelfrankens IHK-Präsident Hans-Peter Schmidt über die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland.
Schmidt unterstrich einleitend, wie wichtig das Thema „Zukunft“ in der breiten öffentlichen Diskussion sei. Die IHK-Organisation schalte sich daher aktiv in die politische Debatte ein. Erlangens Oberbürgermeister Dr. Siegfried Balleis dankte als Gastgeber in seinem Grußwort namentlich dem Hause Siemens dafür, dass es seit Jahrzehnten maßgeblichen Anteil an der guten Position seiner Stadt im deutschen wie im internationalen Städtevergleich habe.

Erfolgsrezepte aus Erlangen
Ursula Heller eröffnete die Runde unter Verweis auf die als „Innovationshauptstadt“ bezeichnete Gastgeberstadt Erlangen mit der Frage, wie viele Erlanger die Republik bräuchte. Der in Erlangen gebürtige Siemens-Chef von Pierer erwiderte, dass es neben den Aktivitäten seines Hauses vor allem die gelungene Mischung aus Industrie, Mittelstand, lebendiger Gründer-Szene und Universität sei, die in ihrer Verbindung mit so genannten weichen Faktoren zu diesem Standort-Erfolg beitrügen. Die Aspekte Universität, Forschung und Bildung griff Georg Ludwig Braun auf, um sich vehement für eine neue Politik und Kultur der Selbstständigkeit stark zu machen. Er forderte mehr Investitionen in diesen Bereichen. „Wir müssen uns grundlegend ändern – Deutschland neu erfinden“, so der DIHK-Präsident. Der Hochschulbereich habe zwar prinzipiell gute Potenziale in Deutschland, häufig seien aber die Strukturen verkrustet.
Wachrütteln nötig
Braun erinnerte an die Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der von einem nötigen „Ruck“, der durch das Land gehen müsse, gesprochen habe. Mehr noch, er wolle ein Rütteln auch an Denkstrukturen, die gerade vor dem Hintergrund sich ständig beschleunigender Veränderungen in der Welt und der Gesellschafts- und Alterstruktur so nicht mehr zeitgemäß seien. Siemens-Chef von Pierer pflichtete dem grundsätzlich bei und ergänzte, dass sich die starke Internationalisierung teilweise noch nicht im Denken der Menschen niedergeschlagen habe. Ein Unternehmen wie Siemens realisiere heute nur noch 20 Prozent seines Gesamtumsatzes in Deutschland und beschäftige weniger als die Hälfte aller seiner Mitarbeiter hier. Dennoch bedürfe ein Unternehmen nach seiner Überzeugung einer Identität. „Diejenigen mit klaren Wurzeln behaupten sich besser“, so von Pierer. Er vertrat die Ansicht, dass Deutschland alle Chancen habe, sich als Standort im globalen Konkurrenzkampf zu behaupten, wenn man seine Kräfte bündele und sein Handeln beschleunige.
IHK-Präsident Schmidt warnte davor, den Standort „kaputt zu reden“. Man müsse sich mehr auf eigene Stärken besinnen und daraus größeres Selbstbewusstsein beziehen. Er verglich die Lage der Region, die vor zehn, fünfzehn Jahren schlecht dagestanden habe, mit der heutigen Situation eines erfolgreich bewältigten Strukturwandels.

Problem Renten- und Gesundheitssystem
Braun thematisierte das Renten- und Gesundheitssystem, das er für grundlegend sanierungsbedürftig halte. „Was Blüm 16 Jahre lang gesagt hat, dass die Renten sicher seien, stimmt erst dann, wenn der Staat Garantien für die Deckungslücke abgibt und das tut er nicht.“ Das müsse man den Menschen sagen, auch wenn es unbequem sei. Weiterhin ließ Braun durchblicken, dass er keine allzu großen Hoffnungen auf die Politik setze, denn die so wörtlich „Gefangenschaft der großen Volksparteien in Wahlterminen“, lähme, weil keiner zu fundamentalen Änderungen an den Systemen bereit sei. Dazu gehöre beispielsweise, mehr in Jugend und Ausbildung und weniger in soziale Sicherheit zu investieren. Daher rechne er auch für den Rest der Legislaturperiode mit keinerlei Bewegung mehr. Von Pierer warf ein, unter diesen Gesichtspunkten sei eine große Koalition, die den Willen zum Aufräumen mitbringe, durchaus eine Alternative für vier Jahre. Angesprochen auf den Greencard-Vorstoß der Bundesregierung äußerte sich der Siemens-Chef lobend, da es ein gutes Beispiel für Weltoffenheit sei.

Positionsbestimmungen
Man müsse sich stets bewusst sein, so von Pierer, wie man von anderen gesehen werde, und da sehe es im internationalen Vergleich momentan leider sehr schlecht aus. Teilweise spreche man in der internationalen Finanz- und Geschäftswelt vom „kranken Mann Deutschland“. Wir sollten hierzulande weniger exzellente Lagebeurteilungen abgeben, als vielmehr endlich handeln. Auf die provozierende Frage, ob es uns angesichts der Veränderungs-Resistenz noch nicht schlecht genug gehe, räumte DIHK-Präsident Braun ein, dass es bei der gegenwärtigen Weltlage keinem Land wirklich gut gehe. Wir bräuchten aber, ähnlich wie in den Aufbaujahren nach dem Krieg, einen Grundkonsens über die in Europa anzustrebende Position unseres Landes.

Deregulierung drängt
Der Prozess von Lissabon, mit den dort beschlossenen Maßnahmen Steuerreform, Reform der sozialen Sicherungssysteme, Bildung und Deregulierung müsse dringend umgesetzt werden. Er sehe jedoch eher, wie unternehmerisches Handeln erschwert werde. Dabei sei in einer „Kultur der Eigenverantwortlichkeit“ mit Sponsoring, Stiftungswesen und Corporate Citizenchip ein enormes Entlastungs- und Einsparpotenzial für den Staat enthalten. „Wir müssen weg von den vielen Schutz-Gesetzen, müssen technikoffener werden, sonst werden uns forschungsfeindliche Positionen unsere Führungsrolle auf manchem Gebiet kosten.“ Außerdem sieht Braun im Föderalismus ein Koordinationsproblem, das Deutschland Nachteile in der Konkurrenz gegenüber Asien und Nordamerika beschere.
Von Pierer sieht den Grund für die Unbeweglichkeit und das Beharrungsvermögen in einem „Verlust an geistiger Jugendlichkeit“. Das werde besonders in Asien deutlich, wo die jungen Menschen eine beeindruckende Wissbegierde und großen Bildungshunger hätten. Hier herrsche dagegen eine „Attitüde saturierter Sattheit“. Es sei daher nicht verwunderlich, wenngleich sehr bedauerlich, wenn die weltweite Referenzstrecke für den „deutschen“ Transrapid nicht in Deutschland, sondern in China gebaut werde, so von Pierer weiter.
Angesichts der aktuellen Probleme auf dem Arbeitsmarkt und der Bundesanstalt für Arbeit, waren sich alle drei Redner einig, dass es hier dringender Veränderungen bedürfe.
Oliver Dehn
 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 04|2002, Seite 18

 
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