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Weg zu einer aktiven liberalen Bürgergesellschaft

Ein Pessimist finde zu jeder Lösung auch ein passendes Problem, heißt es. Wer die nun über ein Jahr währende Reformdebatte verfolgt(e), versteht die bei unseren europäischen Nachbarn weit verbreitete Meinung, zumindest in Sachen Pessimismus seien wir Deutschen unangefochten Weltklasse. Das sprichwörtlich halbvolle Glas (ein in Frankreich naheliegender Vergleich) sei für uns Deutsche eben immer schon halbleer. Ein angemessener Blick auf den „bitteren“ Reformkelch sei aber doch wohl der, diesen sowohl halbleer als auch halbvoll zu sehen.

Halbvoll, d.h. es ist einiges erreicht. Doch nun muss konkret nachgelegt werden, soll dieses Reformpflänzchen nicht wieder verkümmern, soll die Vertrauenskrise in die Politik dauerhaft überwunden, soll im unternehmerischen wie im privaten Bereich auch Planungssicherheit erreicht werden, Voraussetzung nachhaltiger Konjunkturbelebung.

Doch schon die Schwammigkeit und Verengung so zentraler Begriffe wie Eigenverantwortung, Wachstum oder soziale Gerechtigkeit zeigen nicht nur die Versäumnisse vieler Jahre sondern auch das Fehlen eines langfristigen Konzeptes.

Mal abgesehen davon, dass die Politik den mündigen Bürger samt Eigenverantwortung vorwiegend in Zeiten leerer Kassen entdeckt, dass über Jahrzehnte diese Bürgertugend bei Unternehmern durch Subventionen und Schutzmaßnahmen aller Art, beim Arbeitnehmer durch eine alle Lebensbereiche umfassende Sozialpolitik untergraben wurde, wie ernst zu nehmen ist diese Forderung aktuell? Fehlte da nicht wieder einmal der Mut, der jeweiligen Klientel reinen Wein einzuschenken und sie schrittweise an wirkliche Eigenverantwortung heranzuführen?

So blieb es – von den ganz großen Tabus wie der Subventionierung der Landwirtschaft abgesehen – beispielsweise auch bei einer nur halbherzigen Entrümpelung der Handwerksordnung ebenso wie bei der bescheidenen Kürzung von Pendlerpauschale und Eigenheimzulage, der Beschränkung und der Lockerung des Kündigungsschutzes auf Neueingestellte. Soziale Gerechtigkeit?

Unterm Strich sollen dank Agenda 2010 die Lohnnebenkosten stabil bleiben. Müssten sie nicht aber sinken, und das Wachstum gefördert werden?

Unbestimmt bleibt leider auch, ob dabei an den Binnenmarkt, den Export, an ein qualitatives, nachhaltiges Wachstum gedacht wird oder irgendwie an alles zusammen. An „jobless growth“, ein Wachstum ohne Auswirkung auf den Arbeitsmarkt, wird hoffentlich nicht einmal gedacht. Und doch waren die „90er“ Jahre des Wachstums und zugleich Jahre zunehmender Arbeitslosigkeit. Wo bleibt da die Wachstumsdiskussion?

Genügt die Hoffnung auf das inzwischen diskutierte deutlich vereinfachte Steuerrecht mit ebenso deutlich reduzierten Steuersätzen? Ohne ernsthafte Lichtung des Subventionsdschungels, der Streichung von Ausnahmetatbeständen und Vergünstigungen, samt dem Verzicht auf eine weitere Umschichtung der Finanzierung von Sozialleistungen aus dem Steuertopf wird es diese große Reform jedoch nicht geben. (Da ist es doch gut zu wissen, dass sich dank Amnestie wenigstens Schwarzgeld rechnet.)

Ernsthaft bleibt wohl doch nur die Innovations-, die Bildungsgesellschaft. Geld hierfür wäre vorhanden, denn während es an Schulen und Universitäten inzwischen häufig am Nötigsten fehlt, gehen bei der Bundesagentur für Arbeit Abermilliarden in Fort-, Weiterbildung und ABM mit seit Jahren angezweifelter Effizienz.

„Und Deutschland bewegt sich doch!“ steht etwas trotzig über den Anzeigen der Bundesregierung zur Agenda 2010. Auf-der-Stelle-treten wäre ja auch noch eine Art Bewegung, erforderlich sind jedoch entschiedene Schritte, soll die Vision einer liberalen Gesellschaft mündiger Bürger endlich Wirklichkeit werden.
Autor/in: Horst Ulbricht,Wirtschaftsjournalist (Deutschland/Frankreich)
 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 02|2004, Seite 28

 
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