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Mehr Welt!

von Michael Knopf, freier Autor und Spielekritiker, München

Als in Südostasien der Tsunami wütete, war in Deutschland gerade ein Spiel namens „Pompeji“ erschienen. Das Seebeben brachte mehr als 200 000 Menschen um; beim Ausbruch des Vesuv, gut 1 900 Jahre zuvor, waren etwa 2 000 Einwohner Pompejis gestorben. Dieser Unterschied freilich kann der Grund nicht sein, weshalb wir heutzutage in aller Unschuld spielerisch eine Stadt vernichten und gewinnen, sofern die Konkurrenz weniger eigene Leute in Sicherheit gebracht hat – aber mindestens drei Kreuze schlügen, sollten wir die Flucht vor der großen Welle auf dem Brett simulieren. Sieger ist, wer rechtzeitig aufs Dach kommt? So war es in Wirklichkeit, so darf es aber für die nächsten mutmaßlich 1 900 Jahre im Spiel nicht sein, denn das hat schließlich mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Weshalb eigentlich nicht?

Es müssten ja nicht gleich Katastrophen sein, deren Umsetzung sofort und solange Geschmacks- sowie Moralfragen aufwürfe, bis der Anlass in der Geschichte versunken ist und niemanden mehr berührt. Warum aber, wie zuletzt wieder anlässlich der Spielwarenmesse, ständig und fast ausschließlich Spiele mit Titeln wie „Blue Moon City“ oder „Augsburg 1520“ auf den Markt kommen, die entweder aus Fantasy-Welten an den Haaren herbeigezogen werden oder so tun, als wären die Fugger eine gerade gegründete Mittelstandsvereinigung, das ist doch einigermaßen rätselhaft und erweckt den Verdacht, die Autoren und Verlagsredakteure verbrächten ihren Alltag in einer Art Parallelwelt. Dort gibt es keine Dopingfluchten bei Olympia, keine Steuererhöhungen und keinen Krieg im Irak; dort ist immer noch der große Alexander unterwegs nach Osten, und das Unternehmen Thurn und Taxis erprobt gerade die Postkutsche.

Schon klar, das Publikum, die Kunden – sie wollen ja schließlich ebenfalls nicht ihren schnöden Alltag wiederfinden, wenn sie sich am Spielbrett versammeln, was gerade die Erwachsenen hierzulande immer noch gerne und zahlreich tun; das ist wie Fernsehen, eine kleine Flucht zu Angelegenheiten, die nicht die eigenen sind. „Monopoly“ geht gerade noch, da kann man mal hemmungslos Kapitalist sein, doch die täglichen Intrigen und Machtkämpfchen im Büro sollen bitteschön feierabends draußen bleiben. Aber sogar das Fernsehen leistet sich hin und wieder lebensnahe Themen, und siehe, es gibt Zuschauer für solche Filme, man muss sie vielleicht nur suchen und finden, indem das Angebot die Nachfrage aufweckt. Von der Literatur ganz zu schweigen – dort gilt nicht das historische Märchen als großer Wurf, sondern das umfassende Bild der Gegenwart. Und das geht bei Spielen nicht?

Außer bei jenen, die bis auf Skat und Schafkopf alles unter „Kinderkram“ ablegen, sind Spiele mittlerweile als Kulturgut hinreichend anerkannt, und auch der meist nur halb verstandene Schiller-Satz vom spielenden Menschen ist ein nahezu geflügeltes Wort. Nirgendwo aber steht, dass das wunderbar zweckfreie Spiel auch inhaltsleer sein muss; sein Wesen ist, anders als Handlungen im normalen Leben keine Folgen über sich hinaus zu haben, also ein Stündchen Freiheit zu bieten, Freiheit auch dafür, sich auszuprobieren ohne Angst vor Konsequenzen. Sein Wesen ist nicht, jeglichen inhaltlichen Bezug zur Realität zu vermeiden und die Welt mit Feen, Gnomen und mittelalterlichen Händlern zu bevölkern. Und fast mehr noch als die Wirklichkeit fehlt den meisten Spielen, was wir Deutschen entgegen anderslautenden Vorurteilen hin und wieder durchaus haben: Humor. Sehr ernst sind unsere Spiele, vor allem in ihrem Anliegen, geografisch oder zeitlich möglichst weit entfernte Ereignisse möglichst korrekt wiederzugeben.

Ein hübsche Verbindung aus Wirklichkeit und Humor wäre die Satire, mit deren Hilfe sich auch heiklere Themen sozial- und moralverträglich behandeln ließen, wenn schon der Mut zur Provokation so gründlich fehlt. Nicht Tsunami also, nicht „Wir reichern heimlich Uran an, und es gewinnt, wer als Erster eine Bombe baut“ – aber wo bleibt zum Beispiel die witzige Umsetzung des einen oder anderen Wettskandals, eine spielerische Angelegenheit erster Güte? Einer ist Trainer einer Fußballmannschaft, einer hat ein Wettbüro, einer ist Schiedsrichter, und nun beginnt ein herrliches Mauscheln und Bestechen, und gespannt beobachten wir den Ausgang des Spiels…

Ach ja, Träume. Auch sie sind eine Flucht vor der Welt und somit den gängigen Spielen nahe verwandt. Manchmal allerdings wacht man auf und trägt sie noch den ganzen Tag mit sich herum, weil’s so schön war.

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 03|2006, Seite 20

 
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