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Integration

Flucht nach vorn

Zahlreiche Unternehmen beschäftigen bereits Flüchtlinge als Praktikanten, Auszubildende oder Festangestellte. Was sind ihre Erfahrungen?

Genaues weiß man nicht. Das gilt noch immer im Hinblick auf verlässliche Zahlen bei der Beteiligung der Flüchtlinge am Arbeitsmarkt. Wie viele stehen aktuell tatsächlich zur Verfügung? Welche Qualifikationen bringen sie mit? Wie viele arbeiten bereits? Wie viele von ihnen werden dauerhaft im Land bleiben? Zu diesen Fragen kursieren zahlreiche Schätzungen und Hochrechnungen. So etwa vor wenigen Wochen die Annahme, 300 000 Geflüchtete würden schwarz arbeiten, die sich als wenig verlässlich herausstellte. Oder die Tatsache, dass die Dax 30-Unternehmen derzeit nur 100 Menschen mit Fluchthintergrund beschäftigen. Ebenso unübersichtlich wie im Rest der Republik ist die Lage auch in Mittelfranken.

Welche Erfahrungen machen die Unternehmen der Region mit Geflüchteten? Wie steht es um Integrationsklassen und Berufsorientierung? Gibt es Erfolgsgeschichten oder typische Problemfelder? „Ja, es gibt beides“, sagt Yvonne Wetsch, „Willkommens-Lotsin“ bei der IHK Nürnberg für Mittelfranken.

So beschäftigt die Ansbacher Tradebyte Software GmbH seit 1. September einen Auszubildenden zum Fachinformatiker, der zuvor ein Praktikum bei der Firma absolvierte. Derzeit macht außerdem ein Programmierer ein Praktikum mit der Aussicht auf Festanstellung. Für den Produzenten von E-Commerce-Lösungen gilt also tatsächlich, dass qualifizierte geflüchtete Fachkräfte den befürchteten Fachkräftemangel lindern könnten. Das ist aber ein seltener Fall und noch längst nicht überall so. Denn der Prozentsatz derjenigen Geflüchteten, die dem Arbeitsmarkt nahtlos zur Verfügung stehen, ist gering.

Ein Knackpunkt ist die Sprache. Deutschlernen ist für die Geflüchteten aus arabischen Ländern besonders kompliziert, da sie sich oft zum ersten Mal ein neues Alphabet aneignen müssen. Zwei Jahre sind dafür ein ambitionierter Zeitraum, wie auch erste Erfahrungen aus den Integrationsklassen der IHK zeigen. Seit Februar 2016 lernen dort rund 50 (meist unbegleitete minderjährige) Flüchtlinge zwischen 16 und 22 Jahren, darunter nur vier Mädchen, Deutsch. Sie stammen u. a. aus Syrien, Afghanistan und Nigeria. Unterrichtet wird an den vier Standorten Ansbach, Lauf, Herzogenaurach und Nürnberg unter der Regie der IHK an fünf Tagen in der Woche von 8.30 bis 12.30 Uhr.

Integrationsklassen

Entstanden sind die Klassen aus der Not heraus. Denn für die 16- bis 21-Jährigen besteht in Bayern eigentlich Berufsschulpflicht, die Berufsschulen der Region konnten sie aber zunächst nicht alle aufnehmen. Das führte zur Gründung der Integrationsklassen, die bis Juli 2017 laufen und für die die IHK Nürnberg, die Handwerkskammer und zahlreiche Unternehmen mehr als 400 000 Euro bereit gestellt hatten. „Nach den zwei Jahren werden aber nicht alle ausbildungsfähig sein, ein drittes Jahr wird eventuell notwendig“, so Stefan Kastner, Leiter des IHK-Fachbereichs Berufsausbildung. Eine Neuauflage der Integrationsklassen ist dagegen eher unwahrscheinlich, da inzwischen die Zahl der Flüchtlinge abnimmt und die Berufsschulen mit dem Zuwachs umgehen können.

Außer an der Sprache hapert es im Hinblick auf die Ausbildungsfähigkeit vor allem an Mathematik sowie an spezifischer kultureller Kompetenz. „Pünktlichkeit und das Rollenbild von Mann und Frau sind wichtige Punkte“, sagt Kastner. Außerdem sei eine Unterstützung bei der Berufsorientierung ungemein wichtig. „Die meisten wollen studieren, ohne überhaupt einen Schulabschluss zu haben. Vielen fehlt das Bewusstsein, dass eine Ausbildung in Deutschland nichts Zweitklassiges ist, sondern im Gegenteil vielleicht sogar qualifizierter ist als in manchen Ländern ein Studium“, so Kastner. Auch wollten längst nicht alle eine Ausbildung absolvieren, ihnen sei schnelles Geld wichtiger, um Geld an die Familie nachhause zu schicken oder Schulden bei Schleppern zu begleichen.

IHK-Sommerschule

Die Vorstellungen an die Realität anzunähern, sieht der Nürnberger Fachverlag Bildung und Wissen (BW) als wichtige Aufgabe. Er veranstaltete mit den Teilnehmern der Integrationsklassen eine dreiwöchige „IHK-Sommerschule“. Sie fand vom 15. August bis 6. September an drei Standorten in Nürnberg, Lauf und Herzogenaurach statt und bot den 50 Teilnehmern aus acht Ländern die Möglichkeit, ihre Sprachkenntnisse auch in den Sommerferien zu verbessern. Sie erhielten zudem Informationen zu Berufen und zu Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, außerdem erstellten sie Stärken- und Interessenprofile. Ein Trainerteam aus fünf Leuten vermittelte Wichtiges rund um Bewerbungen, übte mit den Teilnehmern die Situation in einem Vorstellungsgespräch und vermittelte Inhalte zur Landeskunde. BW-Prokurist Thomas Preuß hatte den Kurs nicht nur organisiert, sondern unterrichtete auch selbst. Neben den Fragen, welche Berufe es in Deutschland gibt und was man mit welchem Abschluss überhaupt werden kann, ging es auch hier öfter um das Thema Werte. „Dass bei uns der Stärkere dem Schwächeren hilft, das finden die cool, ganz ohne Religiosität“, so Preuß. Wenn das neben der Maxime der Gewaltfreiheit in den Köpfen ankomme, sei er zufrieden. Das größte Problem seien für ihn im Übrigen nicht irgendwelche religiösen Konflikte. Die jungen Leute wollen wissen, wie sie Teil der Gesellschaft werden können und möchten behandelt werden wie alle anderen auch. „Ein Problem ist oftmals das Umfeld“, sagt auch Kastner. Denn wer immer in Watte gepackt werde, traue sich auf Dauer nichts zu. „Und zehn von den 50 könnten sie sofort in ein Vorstellungsgespräch schicken, vor allem die Mädchen“, so Preuß.

Einstieg bei Unternehmen

Der BW Verlag schult in Kooperation mit der Berufsschule 9 seit September eine komplette Berufsintegrationsklasse an zweieinhalb Tagen pro Woche für ein Jahr im Unternehmen. Außerdem wird der Verlag im Frühjahr zwei oder drei Praktikanten der IHK-Sommerschule beschäftigen. Auch andere Unternehmen der Region haben bereits Geflüchtete beschäftigt oder als Auszubildende gewonnen: Siemens hat die Einrichtung der Förderklassen bereits hinter sich, insgesamt 66 Geflüchtete in ganz Deutschland nahmen daran teil, in Erlangen waren es 16. Vier davon haben inzwischen einen Ausbildungsplatz bei Siemens erhalten.

Die Nürnberger Arbeitsagentur stellte dieses Jahr 29 Auszubildende ein, zwei davon mit Fluchthintergrund. Eine junge Frau und ein junger Mann aus Syrien haben gerade ihre Ausbildung zu Fachangestellten für Arbeitsmarktdienstleistung begonnen. Auch sie haben zuvor Praktika und Sprachkurse absolviert. Während der Ausbildung wird die Agentur eine weiterführende Sprachförderung finanzieren. Bei der Sparkasse Nürnberg hospitierten eine Woche lang junge Leute aus dem Irak, aus Aserbaidschan und aus Syrien und erhielten so einen Einblick in das Unternehmen. Die Sparkassen-Azubis des ersten Lehrjahrs begleiteten sie durch die Woche und lernten ihrerseits viel dabei. Auch die IHK Nürnberg für Mittelfranken ist mit gutem Beispiel vorangegangen und hat eine junge Afghanin als Auszubildende eingestellt, die nun schon im zweiten Lehrjahr ist.

Auch der Mittelstand hat bereits erste Erfahrungen gesammelt: Bei der H. u. E. Büschel GmbH in Schwaig, einem weltweit tätigen Hersteller von Feinschneideteilen für die Automobil-, Elektro- und Luftfahrtindustrie, absolvierte ein 16-jähriger Afghane ein Schülerpraktikum. Die Nürnberger Fürst Gruppe beschäftigte sechs Wochen lang einen 18-jährigen Iraner als Praktikanten. Er machte seine Sache gut und übernahm nach der ersten Woche bereits einen eigenständigen Reinigungsbereich. Die Geschäftsführende Gesellschafterin Christine Bruchmann, die sich auch als IHK-Vizepräsidentin engagiert, will ihm daher nach Abschluss der Integrationsklasse einen Ausbildungsvertrag anbieten. Eigentlich wollte sie noch viel mehr Geflüchteten eine Chance geben, aber das war nicht so einfach. „Die Agentur hat vor einem Jahr etwas völlig anderes erzählt als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, und es war lange nicht möglich, jemanden für mein Unternehmen zu begeistern“, erinnert sich Bruchmann.

Informationen der IHK

Auch andere Unternehmen haben Erfahrungen mit widersprüchlichen Aussagen der Behörden gemacht, ehe sie sich an IHK-Willkommens-Lotsin Wetsch wandten. Sie rät Unternehmen deshalb, sich gleich zu Beginn mit der IHK in Verbindung zu setzen, wenn sie planen, einen Geflüchteten zu beschäftigen. Zwar hätten sich die Verwaltungsabläufe mittlerweile etwas eingespielt, aber es gebe teilweise noch immer unterschiedliche Rechtsauffassungen in den unterschiedlichen Agenturbezirken und Ausländerbehörden. Außerdem gilt: Eine Förderung ist oft nicht mehr möglich, wenn bereits ein Arbeitsvertrag geschlossen wurde. Der Entwurf eines solchen ist aber wiederum notwendig, damit der Geflüchtete eine Arbeitserlaubnis beantragen kann. „Angesichts dieser Hürden lohnt es sich wirklich, das Gespräch mit uns zu suchen“, sagt Wetsch.

Autor/in: 

Alexandra Buba

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 10|2016, Seite 22

 
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