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Genossenschaftswesen

Erfolgreich durch Selbsthilfe

Deutsche_Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft © Deutsche_Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft

Vor 200 Jahren wurde Friedrich Wilhelm Raiffeisen geboren. Welche Bedeutung hat die von ihm mitbegründete genossenschaftliche Idee heute?

Friedrich Wilhelm Raiffeisen, geboren am 30. März 1818 in Hamm an der Sieg, ist der wohl bekannteste Gründervater in der deutschen Genossenschaftsgeschichte. In der Bevölkerung ist er durch die Raiffeisenbanken weithin bekannt, auch die Genossenschaften der Agrarwirtschaft sind eng mit Raiffeisen verbunden. Wer aber Raiffeisen war und wofür er steht, darüber herrschen meist nur vage Vorstellungen. Raiffeisen war nach einer kurzen, durch ein Augenleiden beendeten Karriere beim Militär in den 1840er bis 60er Jahren Bürgermeister in mehreren Landgemeinden im Westerwald und sah sich früh mit Problemen der Landbevölkerung konfrontiert, die aus der beginnenden Industrialisierung, der wachsenden Bevölkerung und Missernten resultierten.

Raiffeisen, der der Sohn eines Bürgermeisters und der Enkel eines evangelischen Pfarrers war, wurde ganz im evangelisch-pietistischen Geist erzogen und diese Prägung sollte sein ganzes Leben bestimmen. Die familiären und insbesondere finanziellen Verhältnisse waren beengt und Raiffeisen wurde bereits früh mit Not und Tod konfrontiert. Raiffeisens erste Frau und mehrere seiner Kinder starben früh. Im Alter von 47 Jahren wurde er pensioniert, da ihn sein fortschreitendes Augenleiden an der Fortführung seines Amtes hinderte. Aufgrund der wenigen Dienstjahre erhielt er aber nur eine kleine Pension, sodass die prekären wirtschaftlichen Verhältnisse bestehen blieben.

Das „Projekt Raiffeisen“

In den Jahren 1846/47 kam es in der Folge von Ernteausfällen bei Getreide und Kartoffeln zu stark steigenden Nahrungsmittelpreisen in ganz Deutschland. Im Westerwald drohte vor allem der armen Landbevölkerung eine Hungersnot. Bürgermeister Raiffeisen reagierte mit der Gründung eines Nothilfevereins, der zum Ziel hatte, die Brotversorgung für die Ärmsten sicherzustellen. Dieser „Weyerbuscher Brodverein“ arbeitete auf privat-karitativer Basis und war keine Genossenschaft im späteren und heutigen Sinn. Er zeichnete sich aber durch eine charakteristische Eigenart aus, die auch die späteren Genossenschaften auszeichnen sollte, nämlich die privat organisierte Solidarität.

Die drohende Hungersnot konnte abgewendet werden, aber andere Probleme blieben. So waren die Landwirte abhängig von wucherischen Geldverleihern und Viehhändlern, die ganze Familien in Überschuldung und Ruin trieben. Andere Möglichkeiten, an Kredite zu kommen, hatten die Bauern nicht, da große Privatbanken in ländlichen Regionen nicht tätig waren und die vielerorts neu entstandenen Sparkassen nur Einlagen entgegennahmen. Den Landwirten fehlte es aber oft an flüssigen Mitteln, beispielsweise um Vieh oder Saatgut zu kaufen. Hier setzte Raiffeisen an: Er erkannte, dass in diesem Fall nur das Prinzip der Selbsthilfe greifen und die asymmetrisch verteilte Marktmacht korrigieren konnte. Karitative Aktionen und die Unterstützung durch wohlhabendere Bürger reichten hier nicht aus. So kam es im Jahr 1854 zur Gründung des „Heddesdorfer Wohltätigkeitsvereins“, der insbesondere Kredite an Landwirte vergab. Voraussetzung dafür war, dass sie Mitglieder waren. Dieser Verein wurde später in einen „Darlehnskassenverein“ umgewandelt, der ersten Raiffeisenbank. Seine Erfahrungen fasste Raiffeisen 1866 in einem Buch über Darlehnskassenvereine zusammen, eine Art Blaupause für die Gründung von Kreditgenossenschaften.

Charakteristisch für diese ländlichen Kleinbanken waren folgende Prinzipien:

  • Die Leistungen (Einlagen, Kredite) waren streng an die Mitgliedschaft gebunden (Prinzip der Selbsthilfe).
  • Die Genossenschaft wird durch die Mitglieder geführt und verwaltet – und zwar ehrenamtlich (Prinzip der Selbstverwaltung).
  • Alle Mitglieder haften solidarisch mit ihrem ganzen Privatvermögen für die Verbindlichkeiten der Genossenschaft (Prinzip der Selbstverantwortung).

Diese drei Prinzipien charakterisieren bis heute Genossenschaften, selbst wenn nunmehr auch in vielen Fällen Geschäfte mit Nichtmitgliedern zulässig sind und eine professionelle Geschäftsführung das Ehrenamt ersetzt hat.

Raiffeisen erkannte schnell, dass diese genossenschaftlichen Prinzipien auch bei der Organisation anderer Genossenschaften zielführend waren. So entstanden beispielsweise landwirtschaftliche Einkaufs- und Vermarktungsgenossenschaften. Alle diese frühen Genossenschaften waren zunächst als Vereine organisiert, da die Rechtsperson der „eingetragenen Genossenschaft“ erst später, 1869 in Preußen und 1889 im Deutschen Reich, mit Einführung eines Genossenschaftsgesetzes geschaffen wurde. Die Idee Raiffeisens, der im Jahr 1888 starb, wurde ein durchschlagender Erfolg. Überall im Deutschen Reich wurden ländliche Genossenschaften nach den Prinzipien Raiffeisens gegründet.

Entwicklung des Genossenschaftssektors

Raiffeisen war nicht der einzige Genossenschaftsgründer sowie Theoretiker und Praktiker in einer Person. Ganz ähnlich ging der liberale Jurist und Abgeordnete Hermann Schulze-Delitzsch vor, der in Sachsen die ersten Genossenschaften für Handwerker gründete. Er ist der „Vater der Volksbanken“, gründete aber auch zahlreiche Bezugs- und Absatzgenossenschaften und initiierte Versicherungsvereine. Auf ihn geht das deutsche Genossenschaftsgesetz zurück. Neben Raiffeisen und Schulze-Delitzsch gab es weitere Gründerpersönlichkeiten, die in zahlreichen anderen Sektoren die Gründung von Genossenschaften initiierten: So beispielsweise Victor A. Huber (Wohnungsgenossenschaften), Eduard Pfeiffer und Eugen Richter (Konsumgenossenschaften) sowie Karl Korthaus (gewerbliche Genossenschaften). Später sind auch im wachsenden Dienstleistungssektor Genossenschaften entstanden, beispielsweise Taxigenossenschaften, Apothekergenossenschaften (Sanacorp, Noweda) oder die deutschlandweit bekannte Datev eG, eine Genossenschaft, die IT-Dienstleistungen für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte bereitstellt. Auch im Einzelhandel spielen Genossenschaften eine wichtige Rolle. Die weithin bekannten Edeka- und Rewe-Märkte wurden als Einkaufsgenossenschaften selbstständiger Einzelhändler gegründet.

Wo auch immer Genossenschaften tätig sind, charakterisiert werden können sie durch folgende Prinzipien:

  • Genossenschaften sind Unternehmen, die den Mitgliedern gehören und für diese Leistungen erbringen. Ziel ist die wirtschaftliche Förderung der Mitglieder, nicht die Gewinnmaximierung (Fördergenossenschaften).
  • Es gelten die drei „S“: Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung.
  • Genossenschaften sind meist regional tätig. Es gibt aber auch einige überregional tätige Kreditgenossenschaften, Dienstleitungsgenossenschaften und genossenschaftliche Unternehmen des Einzelhandels, die deutschlandweit bzw. auch international aktiv sind.

Die Marktanteile genossenschaftlicher Unternehmen sind oft beachtlich: So entfällt auf die Genossenschaftsbanken ein Marktanteil von etwa 20 Prozent. Bei den Wohnungsgenossenschaften sieht es mit etwa 25 Prozent Marktanteil bei den gewerblichen Anbietern ganz ähnlich aus. Winzergenossenschaften produzieren etwa 30 Prozent des in Deutschland erzeugten Weins und die Agrargenossenschaften in den neuen Bundesländern (die aus den LPGs der DDR hervorgegangen sind) bewirtschaften in den neuen Bundesländern ca. 25 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Im Lebensmitteleinzelhandel liegt der Anteil genossenschaftlich organisierter Unternehmen (Edeka, Rewe) bei über 40 Prozent. Diese Zahlen dokumentieren, dass aus den einstigen Selbsthilfevereinen Raiffeisens wettbewerbsfähige Marktteilnehmer geworden sind.

Hat Raiffeisen eine Zukunft?

Es stellt sich aber durchaus die Frage, wie es um die Zukunft der Genossenschaften bestellt ist. Dabei waren Genossenschaften schon immer Wandlungsprozessen unterworfen. Die erste Transformation haben die meisten Genossenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt. Damals ging es um den Weg vom Nischenanbieter für spezielle Mitgliederkreise hin zu Unternehmen für Mitglieder, die unter Konkurrenzbedingungen am Markt operieren. Damit war eine Ausweitung der Mitgliederkreise und der potenziellen Kunden verbunden. Diese Herausforderung wurde erfolgreich gemeistert, wobei in den weitaus meisten Fällen die regionale Orientierung der Genossenschaften bestehen blieb. Das gilt auch für die Genossenschaften, die nach der Gesetzesnovelle 2006 entstanden sind und die einem erweiterten Förderzweck (beispielsweise kulturelle und soziale Zwecke) nachgehen können. Allerdings gibt es in diesen Bereichen bisher nur wenige Genossenschaften. Weit erfolgreicher ist das genossenschaftliche Konzept im Energiesektor: Insbesondere bei Photovoltaik-Genossenschaften konnten in den vergangenen zehn Jahren viele erfolgreiche Geschäftsmodelle umgesetzt werden. Im Zuge der kontinuierlich reduzierten EEG-Einspeisevergütungen sind hier die Neugründungen allerdings wieder stark zurückgegangen.

Eine völlig neue Herausforderung stellt sich angesichts der Digitalisierung, die massive Auswirkungen auf Produkte, Prozesse und ganze Geschäftsmodelle hat. Zunächst stellt sich die entscheidende Frage, wie der zu fördernde Mitgliederkreis abgegrenzt werden kann. Waren Genossenschaftsmitglieder früher regional abgrenzbar, so gilt das heute oftmals nicht mehr. Digitale Bankdienstleistungen beispielsweise könnten theoretisch durch Mitglieder weltweit genutzt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn bequeme digitale Bezahlsysteme weiter an Bedeutung gewinnen. Das hat wiederum Konsequenzen für die Art der Leistungserbringung, denn die Bereitstellung von Bankdienstleistungen muss nicht mehr zwingend „vor Ort“ in Geschäftsstellen erfolgen, sondern kann zentral organisiert werden. Ähnliches gilt für die damit zusammenhängenden Beratungsleistungen. Bereits heute zeigt sich ein deutlicher Trend weg von der Filialberatung und hin zu digitalen Kommunikationskanälen. Es ist damit zu rechnen, dass sich diese Tendenzen verstärken werden. Das traditionelle Bild einer Genossenschaftsbank wird sich also verändern.

Bei anderen Genossenschaften dürfte die Digitalisierung einen geringeren Einfluss auf das Geschäftsmodell haben. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn sogenannte tangible Güter produziert werden wie beispielsweise bei einer Wohnungsgenossenschaft, einer Milch verarbeitenden Genossenschaft oder einer Winzergenossenschaft. Hier betrifft die Digitalisierung eher die Kommunikationsstrategie, weniger die Leistungserstellung und kaum die Ausweitung des Mitgliederkreises. Wie sich Genossenschaften in Zukunft „digital transformieren“, ist heute nur in Ansätzen erkennbar.

Autor/in: 

Prof. Dr. Richard Reichel

Prof. Dr. Richard Reichel ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der FOM Hochschule Nürnberg sowie Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Genossenschaftswesen Nürnberg an der Universität Erlangen-Nürnberg (reichel@genossenschaftsinstitut.de).

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 05|2018, Seite 14

 
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