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Dienstleistungen in der EU

An Grenzen gestoßen

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Bei Tätigkeiten in einem anderen EU-Land müssen Arbeitnehmer eine A1-Bescheinigung ihrer Sozialversicherung mitführen. Die Vorschriften sind komplex.

Der E-Mail-Betreff komprimiert ein enormes Quantum Frust und Fassungslosigkeit auf elf Silben: „A1-Bescheinigung – Bürokratie-Monster!!!“ Der Mittelständler, der Doris Schneider diese Nachricht geschickt hat, ist kein Einzelfall. An die Außenhandelsexpertin im IHK-Geschäftsbereich International wenden sich viele Mitgliedsunternehmen, die die Regeln der A1-Bescheinigung (auch als „Entsendebescheinigung“ bekannt) nicht verstehen bzw. über deren strikte Handhabung klagen.

Das „Bürokratie-Monster“ verdankt seine Existenz der Verordnung EG-883/2004 zur „Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ der Europäischen Union (EU). Diese Verordnung wurde 2004 beschlossen und im Mai 2010 wirksam. Demnach unterliegt ein Arbeitnehmer, der eine Tätigkeit in einem anderen EU-Mitgliedsstaat ausübt, grundsätzlich den Sozialversicherungsvorschriften des betreffenden Landes. Dieses sogenannte Territorialprinzip gilt unabhängig davon, wo der Mitarbeiter wohnt oder der Arbeitgeber seinen Sitz hat. So müsste eine Fach- oder Führungskraft, die zeitweise im Ausland arbeitet, in die dortigen Sozialversicherungssysteme einzahlen. Um diese Doppelbelastung innerhalb Europas zu vermeiden, wurde die A1-Bescheinigung geschaffen. Sie sollte die Praxis bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen vereinfachen und verhindern, dass Unternehmen für entsendete Mitarbeiter doppelt Sozialabgaben zahlen, nämlich im Heimatland und im Einsatzland.

Die Absicht war löblich: Mit der A1-Bescheinigung lässt sich eine gleichzeitige Beitragszahlung in mehreren Mitgliedsstaaten und ein Wechsel zwischen den Sozialversicherungssystemen vermeiden. Aber offensichtlich gilt „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“, denn es hakt bei der Umsetzung. Ein Knackpunkt ist dabei die fehlende Unterscheidung zwischen „Entsendung“ und „Dienstreise“ im Sozialversicherungsrecht. Laut Verordnung brauchen alle Arbeitnehmer, Beamte und Selbstständige eine A1-Bescheinigung, wenn sie grenzüberschreitend innerhalb der Europäischen Union, in Island, Liechtenstein, Norwegen oder der Schweiz arbeiten. Diese Vorschrift gilt unabhängig von der Art und der Dauer der Tätigkeit – und zwar ab Tag 1 eines jeden beruflich bedingten Grenzübertritts. Auch bei der Teilnahme an Konferenzen oder Seminaren muss die A1-Bescheinigung ins Reisegepäck.

Laut „Handelsblatt“ begeben sich deutsche Geschäftsleute etwa 119 Mio. Mal pro Jahr auf Dienstreise, rund jeder achte dieser Business-Trips geht ins Ausland. Diese Zahlen machen deutlich, wie viele A1-Bescheinigungen in einer exportorientierten, international eng verbundenen Volkswirtschaft auszustellen wären. Der Konjunktiv ist hier bewusst gesetzt, denn vor allem kleine und mittlere Unternehmen sind sich der Verpflichtung zur A1-Bescheinigung (noch) nicht bewusst, weil sie an offene Märkte innerhalb Europas glauben. Aber Unkenntnis schützt nicht vor Strafe: Wer im Ausland bei einer Kontrolle ohne gültige A1-Bescheinigung angetroffen wird, dessen Einsatz kann als nicht versicherte Tätigkeit – und damit als Schwarzarbeit – angesehen werden. Ob und wie dieser Verstoß geahndet wird, überlässt die EU den Mitgliedsstaaten. In einigen europäischen Ländern wird das Fehlen der A1-Bescheinigung mit Sanktionen und Bußgeldern bis zu mehreren Tausend Euro bestraft.

So steht beispielsweise auf der Homepage der Deutschen Rentenversicherung (DRV) der Hinweis: „Verstärkte Kontrollen werden derzeit insbesondere in Frankreich und Österreich durchgeführt.“ Die Wortwahl betroffener Unternehmer fällt drastischer aus: Sie bezeichnen die Behördenpraxis als „moderne Form der Wegelagerei“. Es kursieren Berichte, nach denen eine „Entsendepolizei“ gezielt Fahrzeuge mit ausländischen Kennzeichen an Autobahnraststätten kontrolliert oder von Messebesuchern die A1-Bescheinigung verlangt. Die österreichische Finanzpolizei führte 2018 über 2 100 Kontrollen durch, 57 Prozent mehr als im Vorjahr. Die verhängten Bußgelder summierten sich auf 4,7 Mio. Euro.

Wie wird die Bescheinigung beantragt?

Um solche Sanktionen zu vermeiden, müssen Unternehmen für ihre Angestellten eine A1-Bescheinigung beantragen – und zwar rechtzeitig vor einer Entsendung oder einer Dienstreise. Für Arbeitnehmer, die freiwillig, familien- oder pflichtversichert einer gesetzlichen Krankenkasse angehören, ist die Krankenkasse die zuständige Stelle. Für Privatversicherte wird die Entsendebescheinigung beim jeweiligen Rentenversicherungsträger beantragt. Seit 1. Juli 2019 ist die Antragstellung ausschließlich auf elektronischem Weg möglich. Die Anträge müssen von den Kassen innerhalb von drei Tagen bearbeitet werden, so die Vorschrift in Deutschland. Allerdings kämpfen die Kassen mit einer zunehmenden Antragsflut. Bei der Techniker Krankenkasse gehen beispielsweise etwa 800 bis 1 600 Anträge täglich ein.

Hinzu kommt: Nicht alle Dienstreisen sind mit drei Tagen Vorlauf planbar. Wenn eine Fertigungsmaschine in einem Werk im EU-Nachbarland ausfällt, muss ein Hersteller seinen Mechaniker sofort hinschicken, um das Problem zu lösen. Diesen Service erwarten die Kunden, denn die enge Verzahnung von Waren und Dienstleistungen ist vor allem im Maschinen- und Anlagenbau weit verbreitete Praxis und gerade für deutsche Anbieter ein wichtiger Pluspunkt im internationalen Wettbewerb. Das Unternehmen, das schnell eine Fachkraft für eine Reparatur in einen EU-Staat schicken muss, hat demnach die Wahl: entweder auf die A1-Bescheinigung warten und den Kunden vergrätzen oder den Mitarbeiter ohne A1-Bescheinigung losschicken.

Ausnahmen bei kurzfristigen Reisen

Für solche Fälle ist eine Ausnahmeregelung vorgesehen: Bei kurzfristigen oder kurzzeitigen, bis zu sieben Tagen dauernden Dienstreisen kann die A1-Bescheinigung nachträglich beantragt werden, so die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Praktiker empfehlen, die Entsendebescheinigung auf jeden Fall vor Reiseantritt zu beantragen und zumindest eine Kopie des Antragsformulars mitzunehmen. Für dringende, kurzfristig anberaumte Geschäftsreisen nach Österreich rät die DRV außerdem, einen Nachweis über die Anmeldung zur Sozialversicherung in Deutschland einzupacken.

Die Handhabung der A1-Bescheinigung in einigen Ländern widerspricht dem wirtschaftspolitischen Ziel, den EU-Binnenmarkt zu stärken, wie die Studie „Binnenmarkt, Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerentsendung – wieviel Bürokratie verträgt ein fairer Wettbewerb“ des Ifo-Instituts erkennen lässt. „Dabei sind konkrete Maßnahmen zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Dienstleistungshandels unerlässlich“, heißt es dort. So werden inzwischen auch auf EU-Ebene Zweifel laut, ob die Auslegung der EG-883/2004 nicht über das Ziel hinausschießt. Hoffnung auf Abhilfe keimte auf, als die EU-Kommission im März 2019 mitteilte, die Verordnung würde überarbeitet. Einer der Eckpunkte: Künftig sollte bei Dienstreisen ins Ausland die Pflicht zur A1-Bescheinigung entfallen. Allerdings scheiterte dieser Vorschlag der Kommission im Rat der Europäischen Union.

Nun soll es einen neuen Anlauf geben, das „Bürokratie-Monster“ zu zähmen: In der Anfang Oktober veröffentlichten „Mittelstandsstrategie“ des Bundeswirtschaftsministeriums ist die Forderung nach einer Abschaffung der A1-Bescheinigung für Dienstreisen ins EU-Ausland deutlich artikuliert: „Wir setzen uns dafür ein, die bürokratischen Belastungen bei der Entsendung von Arbeitnehmern in das EU-Ausland zu verringern. Dies gilt insbesondere für die sogenannte ‚A1-Bescheinigung‘ bei Dienstreisen und Entsendungen.“ Auch das Bayerische Wirtschaftsministerium will sich bei der neuen EU-Kommission für eine Änderung der EG-883/2004 stark machen und sagt den Industrie- und Handelskammern Unterstützung zu, um die „praxisfernen bürokratischen Belastungen durch verpflichtende Beantragung von A1-Bescheinigungen bei Reisen und Entsendungen in andere EU-Staaten zu verringern“.

Es wird jedoch noch dauern, bis diese politischen Initiativen greifen. Bis dahin bleibt den Unternehmen nichts anderes übrig, als sich mit der A1-Bescheinigung zu arrangieren. Und diese Entsendungsbescheinigung ist bei Weitem nicht die einzige Vorschrift, die es bei Tätigkeiten im Ausland zu beachten gilt. Deshalb empfiehlt Doris Schneider: „Es ist bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen immens wichtig, sich rechtzeitig über die aktuellen Bestimmungen im jeweiligen Zielland zu informieren.“ Die Regelungen in den einzelnen Staaten seien sehr komplex und änderten sich häufig. Einen guten Überblick biete hierfür das Online-Portal www.dienstleistungskompass.eu der bayerischen Kammern (siehe Info-Kasten).

Autor/in: 

(aw.)

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 11|2019, Seite 14

 
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