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Migration

Wohin führen die Wege?

08_Blick auf Bilder aus Moria_Hope Project Art Center-Ausstellung Horizonte © GNM/Felix Röser

Bilder, die Geflüchtete 2019 im Rahmen des „Hope Project Art Center“ in Moria schufen

Ausstellung „Horizonte“ im Germanischen Nationalmuseum: Generaldirektor Prof. Dr. Daniel Hess über Trendlinien der Migration.

Migration gibt es, seit es Menschen gibt. Welche historischen Konstanten konnten Sie identifizieren und in der Ausstellung darstellen?

Konstant sind seit jeher die Ursachen der Migration. Zum einen machen sich Menschen gezwungenermaßen auf den Weg, sie fliehen vor Katastrophen wie Kriegen oder Naturereignissen. Zum anderen treibt sie Neugierde, die Suche nach etwas Neuem, nach Horizonterweiterung, nach Anregung und Inspiration. Im Handwerk beispielsweise waren Gesellen immer schon unterwegs. In der Ausstellung zeigen wir historische Darstellungen neben zeitgenössischen Fotografien, denn auch heute noch gehen Handwerker auf die Walz, um fremde Techniken, Stile und Arbeitsweisen zu erlernen. Das neue Wissen bringen sie in die Heimat zurück. Dieser Austausch war und ist eine Bereicherung. So konnten sich Kultur und Kulturtechniken überhaupt erst entwickeln und verbreiten.

Erzählen Sie in der Ausstellung auch über persönliche Migrationserfahrungen und über Hürden, mit denen die Menschen zu kämpfen hatten?

In der Ausstellung stellen wir exemplarisch die Lebenswege von Migranten vor. Zu ihnen gehört u. a. Friedrich Hecker, ein radikaler Revolutionär, dem die politischen Forderungen 1848 in der Frankfurter Paulskirche nicht weit genug gingen. Mit Gleichgesinnten versuchte er den bewaffneten Umsturz, um seine Vorstellungen von einer demokratischen Ordnung und nationalen Einheit zu erwirken. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und Hecker wanderte wie Tausende andere Enttäuschte nach Amerika aus und begann dort mit Frau und Kindern neu – als Weinbauer, als Politiker, der sich gegen die Sklaverei stark machte, und als erfolgreiches Senatsmitglied. Seine freiheitlichen Ideen ließen sich also nicht unterdrücken, sondern sie wirkten andernorts weiter.

Ein anderes, älteres Beispiel sind die Glasbläser auf Murano, einer Insel vor Venedig. Muranoglas galt lange als das qualitativ hochwertigste. Um dieses Alleinstellungsmerkmal und die Exklusivität zu wahren, verbot die Republik Venedig im Spätmittelalter den Glasbläsern jegliche Reisetätigkeit. Sie wollte die Methoden der Muranoglas-Herstellung geheim halten. Solche „gesperrten“ Handwerker waren in Europa im Bereich der innovativen Technologien gang und gäbe. Trotz strenger Kontrollen schafften es auf Murano ausgebildete Glasbläser dennoch, sich in anderen europäischen Städten anzusiedeln und Glas „nach Muranoart“ herzustellen. Was ich damit sagen will: Es ist nie gelungen, neue Ideen und technologische Innovation so zu steuern, dass sie sich nicht verbreitet hätten. Die Vorstellung, Fortschritt und Kreativität kontrollieren und eindämmen zu können, ist auf lange Sicht eine Illusion.

Sie sagten anfangs, dass sich die Ursachen für Migration über Jahrtausende gleichen. Ähneln sich dann auch die Bilder, die Migration darstellen?

Auch hier finden sich erstaunliche Kontinuitäten. Die Sonderschau stellt erstmals historische Zeugnisse der Kulturgeschichte aktuellen Bildern gegenüber, wie wir sie aus den Medien kennen. Ein frühneuzeitliches Gemälde mit dem biblischen Motiv vom „Durchzug durch das Rote Meer“ hängt direkt neben Malereien, die Geflüchtete 2019 in Moria schufen. Dort hatte das „Hope Project Art Center“ künstlerische Programme für Menschen mit Fluchterfahrung veranstaltet. Sowohl das historische Gemälde als auch eines dieser modernen Bilder zeigen dicht gedrängte Menschenmassen, die das rettende Ufer zu erreichen suchen. Eine erstaunliche Parallele, denn zwischen den Gemälden liegen mehr als 400 Jahre. Die Geflüchteten von Moria haben das biblische Geschehen in die Gegenwart übersetzt. Die Darstellungen werden zu überzeitlichen Symbolen für die Hoffnung auf Rettung und den Willen zu überleben.

Sie sprechen von Hoffnung. Kann Kunst und Kultur eine Form der Verarbeitung von Fluchterfahrung sein?

Auf jeden Fall. Das früheste europäische Beispiel dafür ist meiner Meinung nach die Odyssee, der antike Text über die jahrelangen Irrfahrten des Odysseus. Mit jedem Erlebnis gewinnt der Held an Erfahrung und Resilienz. Odysseus wird stärker und schöpft immer wieder neue Hoffnung. Im Erzählen bewältigt er die Traumata seiner gefahrvollen Reise und wird damit zum Vorbild für aktuell Flüchtende, die wiederum ihre Traumata im Erzählen, Aufschreiben und Malen von Bildern zu bewältigen versuchen. Was können wir also aus der Geschichte, aus der Vergangenheit lernen? Auch künftig werden wir Krisen, Kriegen und Katastrophen ausgeliefert sein. Die meisten dieser Bedrohungen gehen vom Menschen aus, der in seiner langen Geschichte nicht besser geworden ist und wahrscheinlich auch nicht besser werden wird. Wir müssen deshalb lernen, mit Ungewohntem und mit Ängsten umzugehen. Wir müssen widerstandsfähig werden und resilient, um das demokratische Miteinander nicht zu gefährden.

Haben Sie eine Prognose, wie die Migration in der Zukunft aussehen wird?

Mit dieser Frage beschäftigt sich die letzte Sektion unserer Ausstellung. Sie fasst Überlegungen und Planungen zusammen, die aktuell immer konkreter werden: Die Migration der Zukunft blickt weit über unseren irdischen Horizont hinaus ins All. Im Bereich der Science-Fiction hat das Besiedeln anderer Planeten bereits in den 1960er Jahren begonnen. Heute überlegt man ganz real, wie man Transporte und Leben auf Nachbarplaneten ermöglichen kann: Welche Raketen, welche Antriebe, welche Architektur benötigen wir, um außerhalb der Erde leben und Nahrung produzieren zu können? In der Ausstellung stellen wir den Besucherinnen und Besuchern die Frage, was sie benötigen würden, um sich außerhalb der Erde heimisch zu fühlen. Was würden sie mitnehmen? Und da finden wir wieder Parallelen zu früheren Migrationsbewegungen. Alle, die irgendwohin aufbrechen, überlegen, was sie dort brauchen werden und mitnehmen sollten. Zentral ist aber auch dann die Frage, wie das Verhältnis zur Erde sein wird und wie wir in Zukunft zusammenleben.

Das stimmt. Wie lässt sich eine Balance zwischen Fachkräfteeinwanderung und humanitär bedingter Einwanderung finden?

Wir sind ein Museum, und es ist nicht an uns, politische Aufgaben zu übernehmen. Aber wir können auf Erfahrungen aus der Geschichte hinweisen und der Gesellschaft Denkanstöße geben. Fakt ist, dass aufgrund des Klimawandels und der globalen demografischen Entwicklung die Migration eher zu- als abnehmen wird. Das heißt, wir müssen uns mit Migration auseinandersetzen, ohne in Angststarre zu verfallen. In der Nachkriegszeit haben beispielsweise türkische und italienische sogenannte Gastarbeiter wesentlich zum wirtschaftlichen Wachstum in Deutschland beigetragen. Ihr Zuzug hatte aber auch weitreichende kulturelle Auswirkungen, wie die steigende Popularität türkischer Musik oder den in Deutschland inzwischen überall etablierten italienischen Restaurants mit Pizza, Pasta und Meeresfrüchten. Ziel der Ausstellung ist, Migration nicht nur als problematisch und krisenbehaftet zu verstehen, sondern in Migration auch Chancen zu erkennen. Die europäische Kultur lebt vom Austausch von Ideen, die europäische Kultur ist eine Migrationskultur.

 

WiM – Wirtschaft in Mittelfranken, Ausgabe 08|2023, Seite 30

 
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