Brücken für Informationen bauen
Wenn Beschäftigte ausscheiden, sind Unternehmen gut beraten, deren Wissen zu erhalten. KI ist dabei eine wichtige Hilfe.


Der demografische Wandel wird viel diskutiert, bleibt aber oft abstrakt. Etwa 30 Prozent der Erwerbstätigen werden vermutlich bis 2036 in den Ruhestand eintreten, viele mit jahrzehntelanger Erfahrung und wertvollem Wissen. Wie konkret die Wissenslücke durch den demografischen Wandel werden kann, zeigt eine Geschichte aus einem regionalen Industrieunternehmen: Zwei Jahre nach ihrer Pensionierung wurde eine ehemalige Mitarbeiterin gebeten, ihre Erfahrungen und Kenntnisse für die Nachfolgenden doch noch zu dokumentieren – weil sie plötzlich fehlten.
Erst nach zwei Jahren hat man dort also erkannt, dass der demografische Wandel Wissenslücken in Organisationen öffnen kann, die es zu überbrücken gilt. Allgemein spricht man von Wissenstransfer, also die Weitergabe von Wissen, Erfahrungen oder Fähigkeiten von einer Person, Gruppe oder Organisation an eine andere. Das kann zum Beispiel im Kollegenkreis, zwischen Generationen oder beim Wechsel eines Arbeitsplatzes passieren. Ziel ist es, wertvolles Wissen zu bewahren, nutzbar zu machen und weiterzuentwickeln. Wissenstransfer ist quasi die Brücke, die über demografiebedingte Wissenslücken geschlagen wird. Diese Wissensbrücken sind besonders für mittelständische Unternehmen wichtig, in denen selten eine zweite Reihe bereitsteht. Geht Wissen, gehen oft auch Kultur, Netzwerke und Entscheidungsfähigkeit. Deshalb muss der Übergang nicht nur administrativ, sondern strategisch gestaltet werden.
Doch Wissenstransfer bringt auch Herausforderungen mit sich: Zum einen kostet es Zeit und Ressourcen, Wissen zu sichern. Zum anderen muss der gesicherte Informationsbestand fortlaufend aktualisiert werden, denn Wissen veraltet, und ohne Pflege wird es nutzlos. Des Weiteren muss das gesicherte Wissen einfach bereitgestellt werden, denn komplexe Systeme schrecken ab. Einfache Zugänge und menschliche Begleitung sind gefragt, damit nachfolgende Menschen den Wissensschatz auch wirklich nutzen. Und schließlich müssen Wissensquellen gut in Alltagsabläufe integriert sein, um eine hohe Nutzung zu erreichen. Künstliche Intelligenz kann bei allen vier Punkten eine wertvolle Unterstützung bieten.
Zwei tragfähige Wissens-Brückenköpfe
Wissenstransfer muss wie jede Brücke zwei tragfähige Brückenköpfe haben: Auf der einen Seite stehen die Wissensgebenden, also Beschäftigte, die über Jahre Routinen, systemisches Verständnis und historisch gewachsenes Orientierungswissen aufgebaut haben. Vieles davon ist nicht dokumentiert – es steckt in Einschätzungen, Abläufen, Handlungslogiken. Um dieses Wissen zugänglich zu machen, braucht es Zeit, Vertrauen und passende Formate. Auf der anderen Seite befinden sich die Wissensnehmenden, also neue oder nachrückende Mitarbeiter, die sich oft schnell in komplexe Themen einarbeiten müssen – und das unter anderen Rahmenbedingungen und mit anderen Fragen. Sie benötigen strukturiertes, verständliches und kontextbezogenes Wissen, das dann verfügbar ist, wenn es gebraucht wird.
Zur Unterstützung für beide Seiten können KI-basierte Systeme eingesetzt werden: Sie unterstützen Wissenstragende beim Erfassen und Verschriftlichen ihres Erfahrungswissens. Darüber hinaus ermöglichen sie auch neue, bedarfsgerechte Zugriffsmöglichkeiten für Wissensnehmende, z. B. über smarte Bots. Künstliche Intelligenz eröffnet also neue Wege, um Wissen nicht nur zu sichern, sondern auch gezielt nutzbar zu machen und so den Brückenschlag zu erleichtern. Dazu tragen insbesondere die Fortschritte in der maschinellen Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing, NLP) und bei Anwendungen zur Textgenerierung (Large Language Models, LLMs) bei.
Die Erfassung erfolgt dabei durch Spracherkennung (z. B. Speech-to-text). So lassen sich klassische Formate wie strukturierte Interviews einfacher aufzeichnen und verschriftlichen – aber auch unkonventionelle Formate wie Storytelling (Vermittlung von Sachverhalten durch Erzählen von Geschichten) und Reenactments (Nachstellungen vergangener Ereignisse). Was früher mühsam manuell transkribiert und in Dokumentenstruktur übertragen wurde, kann heute effizient automatisiert aufbereitet werden. Bei der Aufbereitung ist ebenfalls KI behilflich: Sie kann bestehende Inhalte – aus Notizen, Dokumentationen oder Transkripten – strukturieren, verschlagworten und in Datenbanken einpflegen. So wird Wissen nicht nur gesichert, sondern auch gezielt nutzbar gemacht. Einmal aufbereitet, kann dieses Wissen über dialogfähige Systeme oder KI-Assistenten bedarfsorientiert bereitgestellt werden – genau dann, wenn Fragen aufkommen. So kann der Eindruck einer „virtuellen Konsultation“ mit jemandem entstehen, der längst nicht mehr im Haus ist. Man muss nicht Hunderte Seiten Übergabeprotokoll durchlesen, sondern kann gezielt fragen. Früher mussten Informationen stark gefiltert, strukturiert, gegebenenfalls manuell verschlagwortet und reduziert werden. Zudem war man gezwungen, zu entscheiden, was künftig relevant bleiben könnte. KI-gestützte Systeme erleichtern hier den Umgang mit den vier eingangs genannten Herausforderungen: Der Erhebungsaufwand sinkt (z. B. durch Speech-to-text-Verfahren), die Pflege wird zumindest teilweise automatisierbar, Chatbots können die Nutzerfreundlichkeit steigern und lassen sich leicht in die Alltagsroutine integrieren.
Im Bereich des Wissenstransfer sind es vereinfacht drei Säulen, die den Erfolg ausmachen. So kommt es auf eine gute Methodik an: Wissen muss nicht nur gesammelt, sondern strukturiert erschlossen werden. Neben Interviews und Wissenslandkarten braucht es zur wissenstragenden Person passende Formate der Wissensweitergabe wie Rollenspiele oder das bereits erwähnte Storytelling. Eine weitere Säule ist die individuelle Begleitung: Der Übergang in den Ruhestand ist mehr als ein organisatorischer Akt – er ist ein biografischer Einschnitt. Menschen geben nicht nur Wissen ab, sondern einen Teil ihrer Identität. Aber auch die Nachfolgenden schätzen eine Begleitung – vor allem, wenn keine Übergabezeit möglich war. Nicht alle möchten dabei spontan auf das Wissen der Vorgänger zurückgreifen, daher bleiben Wissensressourcen häufig ungenutzt. Begleitung und Moderation helfen hier. Die dritte Säule ist die technische Integration: KI-Systeme müssen menschenzentriert eingesetzt werden. Das beginnt bereits mit der Benutzerfreundlichkeit und der technischen Integration. Aber den Wissensgebenden muss auch erklärt werden, was mit ihrem Erfahrungsschatz passiert und wer wie darauf zugreifen kann. Die Wissensnehmenden müssen ihrerseits die Nutzung von KI-Systemen beherrschen und die Ausgabe richtig einschätzen können. Diese drei Ebenen – Methodik, Mensch, Technik – müssen nicht nur zusammenspielen, sondern aufeinander abgestimmt sein.
Was Unternehmen jetzt tun können
Die gute Nachricht ist: Der demografische Wandel kommt nicht über Nacht. In den meisten Organisationen bleibt ein Zeitfenster von mehreren Jahren, um den bevorstehenden Wissenstransfer strategisch und technisch anzugehen. Dafür braucht es Klarheit über die nächsten Schritte und die Bereitschaft, das Thema nicht als Nische des Personalwesens, sondern als strategische Zukunftsfrage zu verstehen. Es empfiehlt sich, dabei in drei Phasen vorzugehen.
So muss zunächst analysiert werden, bei wem relevantes Wissen liegt: Welche Rollen und Bereiche sind besonders verletzlich? Visualisierungen wie Heatmaps helfen dabei, zu handeln, bevor Menschen das Unternehmen verlassen, sodass Ressourcen gezielt eingesetzt werden. Dabei müssen nicht sämtliche Erfahrungen von allen erfasst werden. Im zweiten Schritt gilt es, Wissen zu sichern, also Erfahrungswissen systematisch mit den beschriebenen Mitteln zu sichern. Interviews, Storytelling und Workshops helfen dabei, implizites Wissen sichtbar zu machen – besonders dort, wo es nicht dokumentiert ist. Beim dritten Schritt geht es darum, Informationen bereitzustellen, sodass Wissen nutzbar gemacht wird – bespielsweise über gemeinsame Treffen oder über dialogfähige Assistenten. KI-Systeme bieten Inhalte auf Abruf: gezielt, kontextbezogen, verlinkt auf interne Quellen, eingebettet in den Alltag. Aber am besten ist natürlich der direkte zwischenmenschliche Kontakt.
Ein solches Vorgehen funktioniert nur, wenn Wissenstragende, Fachbereiche, IT und Personalwesen gemeinsam an einem Strang ziehen. Wer nur ein Tool einführt, wird wenig Wirkung erzielen. Wer aber den Übergang begleitet, reflektiert und intelligent gestaltet, kann Wissen nicht nur sichern, sondern stärken und damit den „Wissensbrückenbau“ fördern.
Dr. Manuel Illi ist Teamleiter Künstliche Intelligenz bei der QualityMinds GmbH in Nürnberg, die Unternehmen zu Qualitätssicherung, u. a. in den Bereichen Software-Entwicklung und -Tests, Agilität und agile Transformation sowie betrieblichem Lernen berät. Die Aspekte Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen gehören ebenfalls zum Portfolio
(www.qualityminds.de, ai@qualityminds.de).
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